Vielleicht müssen die Sozialwissenschaften wieder marxistischer werden - nicht in dem Sinne einer sozialrevolutionären Theorie und ihrer Folklore. Das ist vorbei. Was man von Marx freilich noch heute lernen kann, ist die Einsicht, dass Akteure die Gründe für das, was sie tun, den Verhältnissen und ihrer gesellschaftlichen Perspektive entnehmen und deshalb bisweilen nicht anders handeln können, als sie es tun, obwohl sie es in Freiheit tun. An dieser Denkungsart hing einmal die Potenz sozialwissenschaftlicher Selbstbeschreibungen gegen die allzu erwartbare Plausibilität gelungenen Alltagslebens und seiner lebensweltlichen Evidenzen. Hier träfen sich dann übrigens die Grundidden von Marx und moderne Systemtheorien. In beiden geht es um die theoriegeleitete Frage, wie sich die Komplexität der Gesellschaft wissenschaftlich begreifen lässt. Von der Selbstberuhigung der Spät- und Postdiagnosen mit ihrer Sehnsucht nach den Vereinfachungen des <Goldenen Zeitalters> (Eric Hobsbawm) nach dem Zweiten Weltkrieg ist das weit entfernt. Vielleicht müssen die Sozialwissenschaften wieder den Mut haben, experimentell mit ihren Theorien umzugehen, um weniger den Narrativen jenes <Goldenen Zeitalters> auf den Leim zu gehen, auch den Mut, Erwartungen eines gebildeten Publikums zu enttäuschen. Das macht Diagnosen dann auch sperriger, unverständlicher, asymmetrischer und weniger geeignet für starke Sätze über Problemkausalitäten. Aber anders geht es nicht.(Aus: Die Zeit, 2. August 2012, S. 50)
Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.
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