Wenn heute an die Übergabe des Berichts »Moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt« im Französischen Dom in Berlin vor genau zehn Jahren
erinnert wird, dann denken viele an Hartz IV, jenes
Grundsicherungssystem, in das Millionen Menschen samt Partnern und
Kindern ohne Rücksicht auf Qualifikation oder Berufserfahrung
hineingepreßt werden und das Hunderttausende in unterwertige
Arbeitsplätze gezwungen hat, ohne ihnen sozialen Schutz zu bieten.
In der Tat hat die Kommission, die den Bericht erstellt hat, einige
Dämme zur Deregulierung am deutschen Arbeitsmarkt eingerissen und
eine Sozialbehörde zum datenfressenden Controlling- und IT-Monster
pervertiert (siehe jW-Thema vom 22.2.2012). Und sie hat mit ihrem
Modul 6 (»Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen«) und
Modul 3 (mit dem zynischen Titel »Neue Zumutbarkeit und
Freiwilligkeit«) die Stichworte für Hartz IV gegeben – aber eben nur
die Stichworte. Auch hat sie diese mit teilweise anderen
Vorstellungen über die Umsetzung verbunden, was letztlich die
Öffentlichkeit besonders raffiniert getäuscht hat in bezug darauf,
was mit Hartz IV und nicht zu vergessen auch mit der deutlichen
Verschlechterung der Arbeitslosenversicherung im Rahmen von HartzIII
auf sie zukommen sollte.
Schon immer war auffällig, daß diejenigen, die die damaligen
Vorgänge erforschen, weniger auf die Analyse von öffentlich
zugänglichen Dokumenten zurückgreifen konnten, sondern auf die
Auswertung von Insiderinformationen, meist anonymisierte Interviews
mit Akteuren der damaligen Zeit, angewiesen waren. Diese
Untersuchungen sind inzwischen ergänzt durch die Arbeit von Anke
Hassel und Christof Schiller1, die wiederum Insider interviewt
haben, die mit zunehmendem zeitlichen Abstand auch immer
unbefangener geplaudert haben. Hassel absolvierte 2003/2004 einen
Forschungsaufenthalt in der Leitungs- und Planungsabteilung des
Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit unter Wolfgang Clement, wo
sie eigentlich an einer Analyse der Grenzen deutscher
Reformkapazität arbeiten wollte. Ihre Beobachtungen zur Entstehung
von Hartz IV haben sie jedoch von der »Reformfähigkeit« des
deutschen Sozialstaats und insbesondere der Ministerialbürokratie
überzeugt. Sie betrachtet die Vorgänge allerdings weniger kritisch
aus demokratischer, rechtsstaatlicher oder gar sozialer Sicht,
sondern mit einer gewissen Faszination für das strategische Arbeiten
der Bürokratie, wo sie einen neuen Typ politischer Unternehmer
erkennt, also aus einer Elitenperspektive. Jetzt ist sie Professorin
für Public Policy an der privaten Hertie School of Governance in
Berlin und dort Kollegin von Jobst Fiedler, der 2004 zum Professor
für Public and Financial Management ernannt wurde und als Mitglied
der Hartz-Kommission noch in Diensten der Unternehmensberatung
Roland Berger Strategy Consultants stand.
Aus ihren Informationen ergibt sich kurz gesagt: Speziell Hartz IV
sowie die verbliebene Restarbeitslosenversicherung und
Restsozialhilfe haben wir nicht in erster Linie der Hartz-Kommission
oder gar dem Namensgeber Peter Hartz persönlich zu verdanken,
sondern einer geheimen Staatsaktion, einer recht undemokratischen,
handstreichartigen Hintergrundarbeit aus dem
Bundesarbeitsministerium (BMA) und dem Bundeskanzleramt –
einverständlich koordiniert und gelenkt durch die Bertelsmann
Stiftung.
Hassel schreibt in dem Kapitel »Stunde der Reformer«, daß es Anfang
2002 bereits »einen Kern verantwortlicher Politiker und Beamter«
gegeben habe, »die die Probleme am Arbeitsmarkt in ähnlicher Weise
interpretierten und den Vermittlungsskandal (der Bundesrechnungshof
hatte im Januar 2002 der BA gravierende Fehler in der
Vermittlungsstatistik nachgewiesen – d. Red.) nutzen wollten, um
ihre Reformvorschläge durchzusetzen«. »Tragende Akteure« dieses
Prozesses seien im Bundeskanzleramt Frank Walter Steinmeier und im
BMA Staatssekretär Gerd Andres gewesen. Walter Riester, damals
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, erinnert sich nach dem
Vermittlungsskandal an ein Gespräch mit Steinmeier: »Walter, wir
müssen das eigentlich mit einem massiven eigenen Schlag lösen. Wir
stehen jetzt vor der Bundestagswahl. Und seine (Steinmeiers) erste
Vorstellung war, McKinsey einzusetzen.« Vermutlich dachte Steinmeier
schon damals an den befreundeten McKinsey-Berater Markus Klimmer,
verantwortlich für den Bereich »Public Sector« und Promoter für
technologiedominierte Verwaltung und Privatisierung, den er 2008 für
sein Wahlkampfteam engagierte und der bis heute IZA Policy Fellow,
Mitglied im Managerkreis der Ebert-Stiftung, in der SPD sowie in
deren Wirtschaftsrat ist und neuerdings im gleichen Feld für das
Managementberatungsunternehmen Accenture arbeitet.
Steinmeier teilte diese Vorliebe für die »Meckis« mit Peter Hartz,
der aber wegen gemeinsamer Projekte bei VW den McKinsey-Direktor
Peter Kraljic für seine Kommission vorzog. Später stießen Florian
Gerster (heute ebenfalls Mitglied im Managerkreis der Ebert-Stiftung
und in der SPD, IZA Policy Fellow, Präsident des Bundesverbands
Briefdienste, Botschafter der »Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft« und Unternehmensberater; damals kurzzeitig
Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit) und Wolfgang
Clement (heute konsequenterweise bei der FDP) zu dieser Gruppe.
Gerd Andres nutzte die Gunst der Stunde unter dem noch unerfahren
Minister Riester, der sich zudem mehr für die Alterssicherung
interessierte, um die zuständige Abteilung mit jungen und
einschlägig ausgewählten Mitarbeitern wie Abteilungsleiter Bernd
Buchheit aus NRW und weiteren Referatsleitern neu zu besetzen.
Buchheit sorgte dafür, daß die Zuständigkeit für Sozialhilfe vom
Gesundheitsministerium schnell ins BMA verlegt wurde.
Das Geheimgremium
Das alles ist für sich genommen noch nicht anstößig. Nur wurde die
weitere Arbeit nach außen und von demokratischer Auseinandersetzung
und Kontrolle abgeschottet. Denn man baute nichtöffentlich mit der
Bertelsmann-Stiftung einen Arbeitskreis »Reform der Arbeitslosen-
und Sozialhilfe« auf, der dann an zentraler Stelle an der
Politikformulierung beteiligt wurde.
Ich selbst war dem breiten Akteursgeflecht, das die Öffentlichkeit
nicht so wahrgenommen hatte, nur mit viel Mühe auf die Spur
gekommen, als ich den Aktivitäten der Bertelsmann-Stiftung und der
von ihr beauftragten Mitarbeiter (Frank Frick, Werner Eichhorst,
Helga Hackenberg) nachging, 2 deren Dokumente nur teilweise
zugänglich und dann plötzlich auch im Netz verschwunden waren.
Kauf am Kiosk!
Dieser Arbeitskreis wurde verzahnt mit einem weiteren
Bertelsmann-Projekt, »Beschäftigungsförderung in Kommunen« (BiK), wo
schon in Sozialhilfezeiten kommunal mit Workfare-Modellen
experimentiert wurde und die Popularisierung von
Workfare-Entwicklungen in den USA (Wisconsin), Großbritannien und
den Niederlanden betrieben wurden – Experimente, auf die auch Roland
Koch von der CDU schon ein Auge geworfen hatte und die öffentlich zu
diskutieren ein parteipolitisches Risiko geworden wäre.
Allerdings war über den Arbeitskreis kaum etwas in Erfahrung zu
bringen. Vertreter des BMA sowie des Kanzleramtes nahmen teil, aber
auch Vertreter aus Länderministerien und Kommunalverwaltungen, vor
allem aus dem federführenden Bundesland Nordrhein-Westfalen.
Heinrich Alt von der BA, Martin Kannegiesser von Gesamtmetall und
sogar Wilhelm Adamy vom DGB. Die Arbeitsgruppe wurde bewußt nicht
beim BMA angesiedelt, was ein Mitarbeiter so begründete: »Wenn wir
als BMA einen Gesprächskreis institutionalisieren und dazu einladen
(…), dann kommen die alle mit ihren institutionellen Hüten, und wir
kriegen keine Debatte.«
Anke Hassel schreibt mit Bezug auf von ihr interviewte Beteiligte:
»Die politischen Parteien und Bundestagsabgeordnete waren im
Arbeitskreis nicht vertreten. Nach der Einschätzung eines
Beteiligten hatte sich in den Parteien in dieser Frage niemand
profiliert. Wesentliche Spielregel des Arbeitskreises war, daß alle
Mitglieder nur als Person und nicht als Vertreter einer Institution
auftraten. Eine Voraussetzung dafür war, daß keine Einzelheiten und
Ergebnisse publik werden sollten. Ein anderer Teilnehmer erinnert
sich: ›Hier konnte man als Privatmann sprechen.‹ Die
Auswahlkriterien für den Teilnehmerkreis waren zum einen die
Kenntnis der Probleme der Arbeitsverwaltung, zum anderen die
individuelle Bereitschaft, über institutionelle Reformen
nachzudenken. (...) Alle Teilnehmer waren dafür bekannt, offen für
Kompromisse und neue Ideen zu sein. Da es sich bei dem Arbeitskreis
um einen geschlossenen Kreis handelte, bei dem Sitzungen weder
dokumentiert noch publik gemacht wurden, konnten Kompromisse über
Parteigrenzen und institutionelle Restriktionen hinweg ermöglicht
werden. Die Bertelsmann-Stiftung stellte dafür die (finanziellen)
Projektressourcen und die wissenschaftliche Expertise zur Verfügung
und organisierte Studienreisen. Die Initiative sowie die
Themensetzung kam jedoch aus dem BMA in Person von Bernd Buchheit,
dem Abteilungsleiter der Abteilung II Arbeitsmarktpolitik.«
Der Arbeitskreis traf sich zu Workshops an abgelegenen Orten und
führte dort offene Debatten über die Fehlentwicklungen der
Arbeitsmarktpolitik. Bald erschien die Zusammenlegung der beiden
Systeme Arbeitslosen- und Sozialhilfe als die »einzig gangbare
Lösung in der Arbeitsmarkpolitik«. Der DGB-Vertreter wehrte sich
zwar dagegen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Spätestens dann
hätte die Überlegung öffentlich gemacht werden müssen. Wurde sie
aber nicht, im Gegenteil: Die Lösung wurde bereits als alternativlos
gehandelt. Die Gruppe trat dann während der Arbeit der
Hartz-Kommission mit einer Empfehlung an die Öffentlichkeit, aber
getarnt als »Kommission von unabhängigen Sachverständigen« eines
Projekts der Bertelsmann-Stiftung, nicht als das maßgebliche
Geheimgremium des Ministeriums. Schon im März 2002 preschte Gerster
zusammen mit Clement mit der Forderung nach Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau und
Einschnitten bei der Arbeitslosenversicherung vor. Die beiden
vertraten ihre Ideen wenigstens nach außen. Aber die Öffentlichkeit
sollte noch nicht verschreckt werden, deshalb wurde der Plan
zunächst wieder dementiert, nur um verdeckt weiterarbeiten zu
können. Der zaudernde Riester wurde zurückgedrängt. Überstürzt und
mit kurzem Zeitfenster wurde die Hartz-Kommission einberufen.
Ein »Kuckucksei«
Zwangsregime zur völligen Entrechtung von Erwerbslosen &nda
Da man sich vor Beginn der Arbeit der Kommission im BMA bereits auf
die Zusammenlegung der beiden Systeme geeinigt hatte, sollte dieser
Punkt nicht im Vordergrund der Kommission stehen, sondern man
verwies sie auf die Bertelsmann-Arbeitsgruppe und deren Konsens:
»Daher bestand dann unter den Mitgliedern der Kommission schnell
Einigkeit darüber, daß es zu einer Zusammenlegung der Systeme keine
Alternative gäbe.« Klar, bei soviel Vorarbeit. Fast alle Vorschläge,
die in das Teilprojekt II der Kommission (Lohnersatzleistungen und
Sozialhilfe; Mitglieder waren Isolde Kunkel-Weber, Wolfgang
Tiefensee und Harald Schartau) eingespeist wurden, kamen aus dem
BMA. Buchheit und Gerster wirkten in der Kommissionsgruppe mit, ohne
Mitglieder zu sein. Dabei wurde offenbar schon über die von einigen
klar formulierten Abschaffungen und Kürzungen gestritten, denn es
jagten sich zeitweise Pressemeldungen, Dementis und
Beschwichtigungen.
Aber zumindest das allgemeine Konzept der Zusammenlegung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe, möglichst noch ohne die Einzelheiten,
mußte unbedingt in den Abschlußbericht. Sonst »haben wir (das BMA;
Anm. der Autoren) in der nächsten Legislaturperiode keine Chance.
Das war schon Absicht«, zitieren Anke Hassel und Christof Schiller
einen Mitarbeiter des BMA. Der Berichtsentwurf der Teilgruppe der
Kommission wurde praktischerweise gleich im BMA ausgearbeitet. Wie
man jetzt erkennt, war es Kalkül, daß der Kommissionsbericht, was
die Zusammenlegung anging, sehr vage blieb und sogar die
Beibehaltung der Arbeitslosenhilfe vortäuschte. Hauptsache, einen
Monat vor der Bundestagswahl war das heimlich vorbereitete Thema
endgültig auf der Regierungsagenda. Auch die strategisch konformen
Berichterstatter im Parlament – Brandner (SPD) und Dückert (Grüne) –
behaupteten, eingeweiht gewesen zu sein, und Laumann (CDU) wie
Niebel (FDP) waren sowieso der Meinung, sie hätten die konkreten
Einschnitte schon lange gefordert. So wirkte die Kommission als
Legitimationsaufkleber für eine Gruppe, die längst alles vorbereitet
hatte. Und jetzt kommt das wörtliche Zitat eines der Akteure aus dem
BMA: »Wir haben das als Kuckucksei der Hartz-Kommission
untergeschoben.« Die gleichen Personen haben dann unter Minister
Clement alle angedachten Rechtspositionen für Arbeitslose aus den
Entwürfen gestrichen, und parlamentarischen Widerstand mit
willkommener Hilfe der Opposition ausgebootet.
Massiver Sozialabbau
Die »Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe« war für
sie von Anfang an die Chiffre für die Abschaffung der
Arbeitslosenhilfe, erheblichen Leistungsabbau in der
Arbeitslosenversicherung und ein neues System einer rechtloseren
Sozialhilfe, die nicht mehr dem Ziel der Schaffung menschenwürdiger
Lebens- und Arbeitsverhältnisse verpflichtet ist – was letztlich
auch einer Abschaffung der bisherigen Sozialhilfe gleichkam. Die
damals durchaus vorhandenen Schwachstellen bei der Verwaltung von
Leistungen für Erwerbslose hätte man auch ohne eine Systemänderung
beheben können. Konzeptionell zwingend war die Abschaffung der
Arbeitslosenhilfe nur für diejenigen, die den Druck auf
arbeitserfahrene, deshalb oft selbstbewußtere und etwas teurere
Arbeitslose verschärfen wollten.
Daß ausgerechnet die Servicewüste Jobcenter – in der Dokumente und
Akten unauffindbar sind, Mitarbeiter verheizt werden und wechseln
wie im Taubenschlag, sich ohne Telefonnummer im »Back-office«
verschanzen und unlesbare Bescheide verschicken müssen, und wo aus
den unterschiedlichsten Gründen inzwischen eigentlich auf beiden
Seiten des Schreibtisches Begleitschutz organisiert werden muß – vor
zehn Jahren unter dem Stichwort: »Moderne Dienstleistungen« der
staunenden Bevölkerung empfohlen wurde, war schon ein Coup der
Unternehmensberaterbranche, der sich mit feinem Gespür für das
Machbare auf wehrlose Arbeitslose konzentriert hat.
Offen und ehrlich ist über die Zusammenlegung, ihre Vor- und
Nachteile parlamentarisch nie richtig gestritten worden. Das muß
nachgeholt werden. Und da reicht nicht ein einfaches »Hartz IV muß
weg«, sondern es geht um eine Alternative, die dafür einen
verläßlichen Rahmen setzt. Die ist jedoch schwer zu erkennen, wenn
diese Gesetzgebung selbst in Gewerkschaftskreisen immer noch als
»Vorwärtsreform« und als sozialer Fortschritt bezeichnet wird. Der
linke Sozialdemokrat Karl Lauterbach dozierte noch 2008: »Links ist,
für die zu kämpfen, denen es am schlechtesten geht. Und das sind in
unserer Gesellschaft die Armen ohne Arbeit. Diese Menschen sind
nicht organisiert, gehören keiner Gewerkschaft an. Sie haben kein
Sprachrohr, keine Lobby. Diese Männer und Frauen waren vergessen.
Für sie haben wir Arbeit geschaffen, keine perfekte Arbeit, keine
gut bezahlte Arbeit, aber immerhin Arbeit. Diese Reformen waren ein
linkes Projekt.« Selbst in rot-rot geführten Bundesländern wird
genauso bedenkenlos mit Sanktionen hantiert und Beratung sowie
qualifizierte Förderung verweigert wie im CDU-geführten Hessen; die
Zwangszuweisung in unterbezahlte geförderte Beschäftigung wird hier
wie dort als Erlösung von Arbeitslosigkeit gefeiert. Es besteht die
Gefahr, daß Kurt Biedenkopf Recht behält, der schon im Januar 2005,
keinen Monat nach der Einführung, Hartz IV als Erfolg feierte, der
ihm zeige, »daß Widerstände organisierter Besitzstände weit weniger
gefährlich sind, als es den Anschein hatte ...« Und weiter: »Wenn
die Leute nur geführt und überzeugt werden, dann akzeptieren sie die
Veränderung und richten sich ein.« – »Gefährliche organisierte
Besitzstände« – das waren im Klartext: sozialversicherte
Beschäftigte und Arbeitslosenhilfeberechtigte.
Manche wollen ein bedingungslose Grundeinkommen einführen und
glauben, die Probleme seien damit gelöst. Die Geschichte von Hartz
IV zeigt, daß die entschlossenen Reformakteure sehr wohl in der Lage
wären, diesen Wunsch aufzunehmen. Sie würden zunächst die
Zusammenführung von Sozialversicherung und Grundsicherung als
Projekt auflegen und die unzweifelhaften Ersparnisse durch den
ersatzlosen Wegfall von Sozialbehörden und -versicherungsbeiträgen
durchrechnen lassen, dann die Zusammenlegung von Verwaltungs- und
Sozialgerichten und später mit den Finanzgerichten angehen, weil das
Finanzamt ohne sozialstaatlichen Auftrag den dann nicht mehr an die
Existenzsicherung und Menschenwürde gekoppelten Betrag mit der
Steuer unters Volk bringen kann. Der erwünschte Freiheitsgewinn
würde allerdings deutlich getrübt, weil die noch massenhaft
vorhandenen einfachen und unattraktiven Arbeiten noch billiger in
Leiharbeits- und Beschäftigungsfirmen erledigt werden müßten (und
könnten) und man den »vergessenen« Arbeitskräften ein wenig
Aktivität zum Erhalt ihrer »Employability« in ihrem wohlverstandenen
Interesse aufnötigen muß. Erfahrungen mit dem Einschleusen solcher
Kuckuckseier hat man ja genug.
Es ist, aller Propaganda zum Trotz, nicht rückwärtsgewandt, neben
Mindestlohn und veränderter Zumutbarkeit, Erweiterung der
Arbeitslosenversicherung und Reduzierung des Sperrzeitwildwuchses
eine zumindest befristete Wiedereinführung der Arbeitslosenhilfe zu
fordern. Sie war nie besonders hoch, eröffnete aber viele
Gestaltungsmöglichkeiten und vermittelte eine gesichertere
Rechtsposition. Auch geförderte Beschäftigung muß wieder versichert
sein. Die Kommunen, die das als Verschiebebahnhof mißbrauchen,
müssen anderweitig zur Kasse gebeten werden, genauso wie andere, die
befristet einstellen.
Im Französischen Dom
Apropos: Warum wurde der Bericht »Moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt« eigentlich im Französischen Dom übergeben? Der wird
von der evangelischen Akademie bewirtschaftet, und deren damaliger
Präsident und EKD-Ratsmitglied Robert Leicht hatte zur Präsentation
vor 500 Gästen geladen. Er sah eine tiefe Verwandtschaft der Arbeit
der Kommission zur protestantischen Arbeitsethik und zu der Aufgabe
der Akademie, »der Politik neues Gelände zu roden – vor allem dort,
wo sie sich im Unterholz der Interessen und Besitzstände ratlos,
manchmal sogar rastlos und restlos festgefahren hat.« Das klingt
ähnlich wie bei der Bertelsmann-Stiftung, die ebenfalls großes
Mitgefühl für die sozialpolitische Verpflichtung der armen Politiker
hat. Sie spricht dann von der institutionell verkrusteten und
lobbyistisch unterwanderten Republik und von der hemmungslosen
Interessenpolitik, in der Parteiapparate und politische Stiftungen
erstarren. Warum sagte der in seinem andern Berufsleben
wirtschaftsliberal profilierte Zeit-Journalist Robert Leicht nicht
gleich: »im Unterholz des sozialen Rechtsstaates und des kollektiven
Arbeitsrechts festgefahren«? Wo er doch 2004 bedauerte, daß Hartz IV
nur den direkten Druck auf die Arbeitslosen, aber nicht auch den auf
die Tarifpartner ausübe. Dann hätte man vielleicht schon bei diesem
Festakt ahnen können, was kommen wird.
Anmerkungen
1 Hassel/Schiller: Der Fall Hartz IV, 2010 auch im Netz: diess: Die
politische Dynamik von Arbeitsmarktreformen in Deutschland am
Beispiel der Hartz-IV- Reform, Abschlußbericht für die
Böckler-Stiftung, 2010
2 Helga Spindler: War auch die Hartz-Kommission ein Bertelsmann
Projekt?« in: Wernicke/Bultmann, Bertelsmann – Netzwerk der Macht,
2007, nachgedruckt bei www.nachdenkseiten.de vom 23.9.2009
Prof. Dr. Helga Spindler arbeitet an der Fakultät für
Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen
Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.
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