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Freitag, 27. November 2020

Steffen Roski: Digitalisierung, Digitalität, Digitalismus. Digitale Bildung in der Corona-Krise - ein Trend-Report



Schule und Bildung sind derzeit in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Insgesamt stellt der Bund in den nächsten fünf Jahren 5 Mrd. Euro für die Digitalisierung von Schulen zur Verfügung. Die Länder tragen weitere 500 Millionen Euro bei. Der "Digitalpakt Schule" soll den Aufbau digitaler Lerninfrastrukturen fördern, Schulen sollen also mit leistungsfähigen Netzen und moderner Präsentationstechnik ausgestattet werden. Förderungsschwerpunkte sind dabei u.a. die Einrichtung von Lernplattformen, Cloud-Angeboten und WLAN-Netzen, die Anschaffung von interaktiven Tafeln und anderen digitalen Arbeitsgeräten, wie beispielsweise Laptops und Tablets, sowie die Kosten für die Administration und Wartung der Systeme. Für landesweite ebenso wie für länderübergreifende Vorhaben seien jeweils fünf Prozent der Fördermittel vorgesehen. Im Gegenzug haben die Länder sich verpflichtet, die Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern, sowie ihre Lehrpläne weiterzuentwickeln. Besonders im Vordergrund stehen soll dabei auch das Verstehen der digitalen Welt. Auf Grundlage der Lehrpläne soll dann die entsprechende digitale Infrastruktur eingerichtet werden.


Die Corona-Krise hat jenen Auftrieb gegeben, die sich bereits seit vielen Jahren für eine "Digitalisierung" der Bildung aussprechen und einsetzen. Dass es in den Gemeinschaften professioneller Pädagogen über dies Thema eine ebenso lange Debatte über die Vor- und Nachteile dieses Prozesses gibt, liegt auf der Hand. Wirklich wahrheitsfähig sind Ergebnisse pädagogischer Forschung eher selten. So ist das Gesamtbild entsprechend uneinheitlich. Es gibt Schulen sowie Fachbereiche von Hochschulen, die auch unabhängig von den Entwicklungen in der Corona-Krise bereits seit Langem praktizieren, was geschulte Lehrkräfte mit dem Begriff "Digitalität" bezeichnen würden: eine eingeübte Unterrichtspraxis nämlich, die im Grunde bereits vorweggenommen hat, was die Bundesregierung mit dem "Digitalpakt Schule" nun flächendeckend anzustoßen gedenkt. 


Ich möchte vorschlagen, das Begriffspaar "Digitalisierung" / "Digitalität" zu einer Trias zu erweitern und mich für eine Anknüpfung dieser beiden Begriffe an Entwicklungen in der Ökonomie stark zu machen. Mit "Digitalismus" möchte ich die strukturelle Kopplung technologischer Entwicklungen an Profitinteressen von Unternehmen, die in der Digitalwirtschaft operieren, bezeichnen. Über Digitalisierung und Digitalität zu sprechen, heißt dann immer auch: diese strukturelle Kopplung mitzudenken. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden aufzeigen, wie Digitalismus vorangetrieben wird, welche Organisationen und Netzwerke bestehen und die eine oder andere Überlegung darüber anfügen, welche gesellschaftlichen Folgen aus Digitalismusstrategien resultieren mögen.


US-Aktivitäten


Mit einem Volumen von fünf Billionen US-Dollar ist der Bildungssektor der zweitgrößte der Weltwirtschaft. Dies jedenfalls lehrt ein Blick auf die Seite der Bertelsmann Education Group (1). Mit dieser 2015 gegründeten Unternehmensgruppe nutzt Bertelsmann langjährige Branchenkenntnisse sowie stabile, weit gefächerte internationale Netzwerke und stellt Kapital dafür bereit, Bildungsunternehmen zu kreieren. Mit den vorwiegend im US-amerikanischen Markt aktiven Bildungsanbietern Udacity, Relias und HotChalk sind bislang derer drei Bestandteil der Education Group.


Das US-Engagement der Bertelsmann-Tochter ist vor dem Hintergrund des sehr ausgeprägt privatwirtschaftlichen Bildungssektors in den Vereinigten Staaten verständlich, wo sich, Kevin Carey (2) zufolge, eine schleichende Übernahme des Systems der höheren Bildung ereignet hat. Online erworbene Hochschulabschlüsse sind an vielen US-Hochschulen genauso teuer wie jene, die im Präsenzbetrieb erlangt werden können. So kosten beispielsweise die Online- als auch die Campus-Master-Abschlüsse im Bereich Soziale Arbeit an der University of Southern California jeweils exakt 107.484 Dollar. Carey beobachtet einen harten Konkurrenzkampf sogenannter Online Program Managers (OPMs), zu denen auch die Bertelsmann-Übernahme HotChalk zählt: "(P)ublishing giants such as Wiley, Pearson and Bertelsmann have snapped up OPMs for hundreds of millions of dollars. One analyst describes the current state of the industry as 'a scene out of "Mad Max," a chase through these dystopian hinterlands with obstacles in the way and people attacking each other.'" Der relativ offene, kaum regulierte US-Bildungsmarkt bietet OPMs lukrative Aussichten. Wer sich einmal durchgesetzt hat, steht vor profitablen Liaisons mit anerkannten, vertrauenswürdigen, reputierlichen akademischen Organisationen - und es wird dann zunehmend schwierig zu entscheiden, wo jeweils im Strange Loop akademisches Prestige und kapitalistischer Profit beginnt oder endet.


Der Bertelsmann-Konzern ist seit langem global aufgestellt: bereits zu Beginn der 2000er Jahre betrug der Auslandsanteil am Gesamtumsatz 69 Prozent (3). Die erst neu gegründete Education Group ist einer von heute acht Unternehmensbereichen. Für den Bildungsbereich bedeutsam sind darüber hinaus die RTL Group (Fernsehen und Radio), Gruner + Jahr (Zeitschriften) sowie Penguin Random House, der weltweit größte Publikumsverlag für Bücher. Bertelsmann kontrolliert damit mindestens ein Viertel der weltweiten Buchproduktion. Unter dem Vorsitz der Gruner + Jahr-CEO Julia Jäkel steuert die Bertelsmann Content Alliance seit Februar 2019 die Zusammenarbeit aller Inhaltegeschäfte von Bertelsmann. Somit ist z.B. für die Education Group der Zugriff auf alle bildungsbezogenen Contents aus der riesigen Schatzkammer des Medienriesens aus dem ost-westfälischen Gütersloh sichergestellt. 


Weltweit differieren Bildungssysteme enorm, dasjenige der USA unterscheidet sich etwa vom deutschen mit seinem Staatsbezug und der sprichwörtlichen Bildungshoheit der Länder in vielerlei Hinsichten, die "dystopian hinterlands" durch die die Bertelsmann Education Group in den Vereinigten Staaten Jagd auf Konkurrenten macht, sind für die gegenwärtige Bildungslandschaft der Bundesrepublik nicht bestimmend und typisch. So beklagt etwa der Leiter für Bildungsforschung am mmb-Institut, einer "Denkwerkstatt und Impulsgeber für die Innovation von Bildung und Lernen", Lutz Goertz (4), dass von einem Aufblühen der E-Learning-Branche in der Corona-Krise, auch angesichts des mit dem "Digitalpakt Schule" angestoßenen "Digital Turns" keine Rede sein könne: "Vielmehr spaltet die Krise die digitale Bildungswirtschaft in nahezu gleich viele Gewinner und Verlierer – wobei für die meisten derzeit noch keine nennenswerte Veränderung wahrnehmbar ist." 


Digitale Bildung - ein "Muss"!


Der Digitalisierungsprozess dürfte schwerlich in Gang kommen, wenn den meisten Kindern die notwendige Basisausstattung fehlt. In einem kürzlich gesendeten Interview mit dem Deutschlandfunk sieht der Direktor für Bildung bei der OECD, Andreas Schleicher (5), Deutschland schlecht aufgestellt: "Die Digitalisierung bietet uns ja Möglichkeiten, wirklich auch ganz anders zu lernen. Lernen ist kein Ort, Lernen ist eine Aktivität und die Digitalisierung kann das in vielerlei Hinsicht unterstützen, und ich denke, da ist noch sehr viel zu tun. Bei der technischen Ausstattung hat der Digitalpakt jetzt einen ersten Anfang gemacht, aber da braucht man wirklich gute Plattformen, da braucht man Unterrichtsmaterialien, die auch wirklich in die Lehrpläne voll integriert sind." Für Bundesbildungsministerin Anja Karliczek stellt sich kein Abwägungsproblem, ganz im Gegenteil: "Denn digitale Bildung sei 'kein Nice-to-have, sondern ein Must-have'." (6) Margaritis Schinas (EU-Kommissionsvize), Mariya Gabriel (Kommissarin für Innovation und Jugend) und die für Digitales zuständige EU-Kommissarin Margrethe Vestager lassen sich ganz ähnlich vernehmen und betonen, die Corona-Krise hätte den Fernunterricht über das Internet ins Zentrum der Bildungspraxis gerückt, es gebe daher den „dringenden Bedarf“, die digitale Bildung zu verbessern – auch in „strategischer und langfristiger“ Hinsicht. (7) Zivilgesellschaftliche Akteure haben den Ball längst aufgenommen. So fordert die Gründerin des Vereins Digitale Bildung für alle e.V., Verena Pausder (8), aktuell in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Positivlisten für jene Lernplattformen, die an den Schulen im Fern- oder Hybridunterricht genutzt werden dürfen: "Jetzt zu sagen, was braucht jede Schule, und sie kriegt ein Budget, eine Art Corona-Budget, um jetzt mobile Hotspots, Geräte, Inhalte, Plattformen bezahlen zu können, die sie jetzt besonders in diesen nächsten Monaten braucht, das ist, glaube ich, der Weg nach vorne."


Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM-Bildungsmonitor 2020) hat das Institut der deutschen Wirtschaft Köln im August 2020 eine Studie mit dem Titel "Schulische Bildung in Zeiten der Corona-Krise" (9) verfasst. Für die Digitalisierung der schulischen Bildung wird das Ingangsetzen eines "Change-Prozesses" gefordert: Erstens sei die Dringlichkeit des Wandels anzuerkennen, was konkret heißen würde, Bund, Länder und Kommunen davon zu überzeugen, künftig nicht einfach zur Präsenzlehre zurückzukehren, sondern über den "Digitalpakt Schule" hinaus die Digitalisierung der Bildung voranzutreiben. Dies bedeute im Weiteren, zweitens, Koalitionen zu schmieden sowie Visionen zu entwickeln und zu kommunizieren: "Wichtig ist es dabei, die Erwartungen und Zielsetzungen auch während der Pandemie­-Zeit durch Schulbehörden und Ministerien transparent und unterstützend zu kommunizieren." In einem dritten Schritt gelte es Hindernisse aus dem Weg zu räumen und retardierende Kräfte zu verringern. So wird in der Studie z.B. vorgeschlagen, die Lernmittelfreiheit auf digitale Endgeräte auszuweiten. Viertens sollten kurzfristige Erfolge im Change-Prozess durch Best-Practice-Beispiele sichtbar gemacht werden: "Beispiele finden sich bereits heute durch die Auszeichnungen von MINT­Schulen, MINT­EC­Schulen, smart schools oder digitale Schulen durch verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure." In einem fünften Schritt seien weitere Veränderungen einzuleiten. Dies wird von den Autoren der Studie in einer klaren digitalwirtschaftlichen, eben digitalistischen Diktion dargestellt: "Wichtig ist es darüber hinaus, die Potenziale der Digitalisierung in einem nächsten Schritt zu nutzen. So ergeben sich bei einer mit hohen Fixkosten verbundenen Entwicklung von digitalen interaktiven Lerntools oder Lernplattformen gewaltige Potenziale der Skalierung, da die Grenzkosten der Einbeziehung eines weiteren Nutzers nahe Null sind." Schließlich gelte es, sechstens, die Kultur dauerhaft im Sinne gelebter und geübter Digitalität zu ändern. 


Die Bertelsmann Stiftung


"Der politische Wille ist erfreulich ... Die Umsetzung ist allerdings mangelhaft, denn Länderproporz schlägt einmal mehr Bedürftigkeit", rügt Jörg Dräger (10) in einem Gastbeitrag zum zwd-Politikmagazin, wiedergegeben auf der Projektseite "Digitalisierung der Bildung" der Bertelsmann Stiftung. Dräger, einst Senator für Wissenschaft und Forschung sowie zeitweise auch Senator für Gesundheit und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg, ist Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung sowie Geschäftsführer des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), an dem die Bertelsmann Stiftung laut dem im Bundesanzeiger geführten Unternehmensregister 90 Prozent der Anteile hält. 


Laut Wikipedia (11) lässt sich summarisch über die Bertelsmann Stiftung festhalten: Die Bertelsmann Stiftung ist eine selbständige Stiftung des privaten Rechts mit Sitz in Gütersloh, hält seit 1993 die Mehrheit der Anteile des Bertelsmannkonzerns, untersteht der Aufsicht durch die Bezirksregierung Detmold und verfolgt ausschließlich und unmittelbar steuerbegünstigte Zwecke im Sinne der Abgabenordnung. Derzeit ist der Vorstand der Bertelsmann Stiftung mit Ralph Heck (Vorsitzender), Liz Mohn (stellvertretende Vorsitzende), Brigitte Mohn und Jörg Dräger besetzt. 


Seit ihrer Gründung 1977 hat die Bertelsmann Stiftung mehr als 1,5 Milliarden Euro für gemeinnützige Arbeit zur Verfügung gestellt. Im Geschäftsjahr 2019 beliefen sich die Ausgaben auf rund 90,5 Millionen Euro. Die Bertelsmann Stiftung arbeitet rein operativ und vergibt keine Stipendien. Sie investiert ihre Mittel in Projekte, die sie selbst initiiert, konzipiert und umsetzt. Beispielsweise erstellt die Bertelsmann Stiftung Studien und Rankings, organisiert Modellprojekte, vermittelt Wissen und Kompetenzen, veranstaltet Kongresse und vergibt Preise. Wichtige Arbeitsfelder sind die Bereiche Bildung, Demokratie, Europa, Gesundheit, Werte und Wirtschaft, sowie Megatrends wie beispielsweise der demografische Wandel. Aufmerksamkeit erregte die Gründung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE GmbH) durch die Bertelsmann Stiftung und die Stiftung zur Förderung der Hochschulrektorenkonferenz im Jahr 1994. Die Einrichtung versteht sich als „Reformwerkstatt“ für das deutsche Hochschulwesen. Die Bertelsmann Stiftung ist parteipolitisch neutral. Sie arbeitet regional, national und international. Auch digitales Lernen ist bis heute ein wichtiges Thema, da es als Lösung für verschiedene strukturelle Probleme im Bildungsbereich angesehen wird. Einen Überblick bietet ein gemeinsam mit dem CHE betriebenes Blog "Digitalisierung der Bildung", auf dem die Bertelsmann Stiftung die Aktivitäten von der Schule bis hin zum Lebenslangen Lernen bündelt. (12)


Im Jahr 2017, längst vor der Corona-Krise, beklagte der Verband der Bildungsmedien (VBM) (13), an dem alle in Deutschland einschlägigen Schulbuchverlage beteiligt sind, den Mangel einer konkreten, bedarfsgerechten Umsetzung der digitalen Bildung und bezog sich dabei auf dem im selben Jahr von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichten "Forderungskatalog für ein digitales Deutschland". (14) Diese Forderungen richten sich nach außen - an eine interessierte Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft, Politik und Ministerialbürokratie. Zugleich fügen sie sich ein in die strategischen Planungen des Bertelsmann-Konzerns sowie in die Interessenkonstellationen der Digitalwirtschaft insgesamt. So verkündete 2015 Bertelsmann-Vorstand Thomas Rabe gegenüber der Wochenzeitung Freitag: "Wir wollen den Bildungsbereich zu einer tragenden Säule des 'neuen Bertelsmann' entwickeln." (15) Seitdem hat die Bertelsmann Stiftung ihre konkreten Forderungen vermittelt über weitere Projekte, vielerlei Projektpartnerschaften sowie Publikationen an Politik und Öffentlichkeit adressiert. 


Der gemeinsam mit dem Projektpartner mmb-Institut - Gesellschaft für Medien- und Kompetenzforschung entwickelte "Monitor Digitale Bildung" (16) soll der Bertelsmann Stiftung die "empirische Datenbasis über alle Bereiche des digitalen Lernens hinweg" liefern, von der Primarstufe, über die berufliche Bildung bis hin zu den Hochschulen. (17) Expertisen des unabhängigen und privaten mmb-Instituts werden beauftragt von öffentlichen Institutionen wie Ministerien, die NRW-Staatskanzlei, Kommunen oder Bundesinstitute, Verbände, Vereine und Stiftungen, darunter auch die Bertelsmann Stiftung und das CHE, Bildungseinrichtungen und Akademien sowie privatwirtschaftliche Unternehmen. Diese Projektpartnerschaft hält bereits über einen längeren Zeitraum: bereits 2014 beauftragte die Bertelsmann Stiftung mmb mit der Studie "Digitales Lernen adaptiv. Technische und didaktische Potenziale für die Weiterbildung der Zukunft". Als Mitherausgeberin tritt die Bertelsmann Stiftung zudem bei den jährlichen Lagebildern zur digitalen Gesellschaft, dem "Digital-Index" der Initiative D21, in Erscheinung, wo denn auch im aktuellen Bericht 2020 die versäumte Digitalisierung des Schulbetriebs beklagt wird. (18)


Leitkonferenz ist das "Forum Bildung Digitalisierung" mit seinen Jahrestreffen. Dabei handelt es sich um eine Initiative der Bertelsmann Stiftung, an der zudem mit der Deutsche Telekom Stiftung, Dieter Schwarz Stiftung, Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, Robert Bosch Stiftung, Siemens Stiftung, Stiftung Mercator und Joachim Herz Stiftung sieben weitere philanthropische Akteure beteiligt sind. Das Forum tritt zugleich als eingetragener Verein mit ca. 40 Mitgliedsschulen bundesweit in Erscheinung. Der auf den Seiten des Forums vorzufindende Appell lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: "Lasst uns Lehrkräfte durch eigene Kooperation, Risikobereitschaft, offene Fehlerkultur und Eigenverantwortung ein Vorbild sein in dieser Zeit, probieren wir Neues aus und vertrauen wir unseren Schülerinnen und Schülern! Dann sehen wir am Ende möglicherweise auf diese Zeit und die flächendeckenden Schulschließungen als eine Zeit des digitalen Wandels und der pragmatischen Innovation zurück." (19)


Während über Forderungskataloge und Projektpartnerschaften mit Bildungsinstituten politisch-administrative Entscheider beeinflusst werden sollen, geht die Bertelsmann Stiftung z.B. mit dem "Forum Bildung Digitalisierung" den Weg gleichsam "von unten" an und versucht, zivilgesellschaftliche Akteure, Einzelschulen sowie Lehrerinnen und Lehrer einzubinden. Dies erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Corona-Krise viel versprechend, sind eben doch individuelle Bildungseinrichtungen von möglichen Schließungen konkret betroffen, muss doch an jeder einzelnen Schule ausgelotet werden, inwieweit Fern- und Hybridunterricht technisch und organisatorisch ermöglicht werden können. Auch nach den Erfahrungen des ersten, "harten" Lockdowns dürfte auch jetzt, im November 2020 gelten: Probleme und Unsicherheiten mit dem Thema Digitalisierung bestehen auch gegenwärtig an den Schulen weiter!


Die Bildung zivilgesellschaftlicher Netzwerke erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der föderalen Struktur des bundesdeutschen Bildungssektors ein nachhaltiger strategischer Ansatz zu sein, denn es bedarf eines langen Atems. Die Bertelsmann Stiftung ist sich vollkommen darüber im Klaren, dass ein Top-Down-Ansatz allein nicht ausreichen wird, in jedem Bundesland aufs Neue Ministerien zu überzeugen und Ansätze wie eben jene zur Digitalisierung der Bildung jeweils immer wieder neu zu verhandeln. Mit dem aus den USA übernommenen Bildungsprogramm Teach First hat sich die Bertelsmann Stiftung "auf den Weg gemacht und erobert Bundesland für Bundesland". (20) Der Ansatz ist so einfach wie pragmatisch: "Das Programm schickt gut ausgebildete Uni-Absolventen an sogenannte Brennpunktschulen. Dort unterstützen sie die Lehrer im Unterricht, fördern individuell am Nachmittag, holen spannende Projekte an die Schulen." Wer sich einmal für Teach First Deutschland eingesetzt hat, erhält die Möglichkeit, sich in einem "Alumni-Netzwerk" für bessere Bildungschancen stark zu machen. Am Rande sei erwähnt, dass mit Elke Büdenbender die Frau des amtierenden Bundespräsidenten als "Schirmherrin" gewonnen werden konnte. Das deutsche Programm ist gleichzeitig Bestandteil des globalen Netzwerks "Teach For All" mit weltweit über 50 Länderorganisationen.


Digitalismus


Welche gesellschaftlichen Folgen lassen sich aus dieser Aufstellung ableiten? Zunächst einmal ist es wichtig festzuhalten, dass nicht allein der Bertelsmann Konzern und die Bertelsmann Stiftung bestrebt sind, Digitalisierungsprozesse im Bildungsbereich voranzutreiben. Als ein weiteres Beispiel wären etwa die Deutsche Telekom oder Vodafone anzufügen. Die Deutsche Telekom Stiftung und die Vodafone Stiftung beteiligen sich wie andere Konzerne und Plattformen der Digitalwirtschaft auch, Google und Facebook etwa, an diversen Foren, Konferenzen und Initiativen. Ich habe den Fokus deshalb auf Bertelsmann und die Bertelsmann Stiftung gerichtet, weil das Gütersloher Unternehmen seit langem bereits mit besonderer Ausdauer, Weitsicht und durch erheblichen Kapitaleinsatz sowohl gemeinnützige als auch kommerzielle Interessen verfolgt. Konzern (etwa über die Zeitschriftensparte Gruner + Jahr, die Fernsehkanäle der RTL Group wie RTL, Vox und n-tv) und Stiftung (Einbindung in vielfältige Netzwerke politisch-administrativer Entscheider und der Zivilgesellschaft, Publikation von Expertisen und wissenschaftlichen Studien und Empfehlungen) verfügen über ein beachtliches Potential der Beeinflussung der öffentlichen Meinung, was in dieser Konstellation in der Bundesrepublik seines Gleichen sucht. Es ist der sprichwörtliche lange Atem des Medienriesen, sich seit jeher in zuweilen mühevoller und zäher Detailarbeit dem Gebiet der digitalen Bildung gewidmet zu haben, der jetzt angesichts der aus der Corona-Krise abgeleiteten Notwendigkeiten heraus beginnt, sich für den Konzern sowie die Digitalwirtschaft insgesamt bezahlt zu machen. Eines ist gewiss nicht zu erwarten: ein Lockerlassen dieser Bemühungen nämlich!


Wohin die Entwicklung steuern könnte, ist zu erahnen, wenn man ein Interview liest, das die F.A.Z. mit dem Lehrer Gottfried Böhme (21) geführt hat. Böhme zitiert dort eine Forderung des Bertelsmann Stiftungsvorstands Jörg Dräger. Dieser propagiere in seinem Buch "Die digitale Bildungsrevolution" eine "School of one", "in der Lernprogramme auf den einzelnen Schüler zugeschnitten werden, was den Klassenverband zerstört." Das Poröswerden der Institution Schulklasse ist nun tatsächlich vor dem Hintergrund der Corona-Krise ein beobachtbares Phänomen. Julia Reda (22) berichtet von Überlegungen der Deutschen Telekom, einen speziellen niedrigen, von den Schulträgern zu übernehmenden Bildungstarif vorzusehen, um Schülern aus finanzarmen Haushalten die Teilnahme am Fernunterricht zu ermöglichen. Dabei soll der Zugang auf eine Handvoll vom Schulträger vorkonfigurierter Lernangebote limitiert sein. Reda befürchtet die Heraufkunft eines "Zwei-Klassen-Internets", sozusagen eines optional begrenzten Bildungs-Intranets für die weniger Begüterten. Ähnlich wie dies für den Nachhilfeunterricht in der Vergangenheit galt könnte sich künftig ein neuer Markt für entsprechend exklusive Online-Tools und -Plattformen entwickeln, der letztlich das Habenwollen von mehr und besserer Digitalbildung über das Medium Geld regelt. Sowohl Lehrer Böhme als auch Netzaktivistin Reda haben zudem erhebliche Datenschutzbedenken was Schulclouds (im F.A.Z.-Interview wird jene der Hasso-Plattner-Stiftung erwähnt) und Sonder-Bildungstarife angeht. So fasst Reda für das geplante Telekom-Angebot ihre Bedenken so zusammen: "Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist der Datenschutz besonders wichtig, es ist also unvorstellbar, dass die Telekom mittels Deep Packet Inspection deren Surfverhalten überwachen können soll, nur um sicherzustellen, dass sie ausschließlich Bildungsangebote aufsuchen. Auch wenn ein Schulträger die Telekom anweist, welche Inhalte gesperrt und welche durchgeleitet werden sollen, wäre eine solche Überwachung des Datenverkehrs durch die Telekom ohne explizite Gesetzesgrundlage europarechtswidrig."


Wie die digitale Bildungslandschaft in zehn Jahren aussehen wird, lässt sich natürlich nicht sagen. Erste Konturen des Digitalismus jedenfalls sind bereits heute erkennbar!


(P.S. Mit dem Kauf der Verlagsgruppe Simon&Schuster verkauft Bertelsmann jetzt in den USA jedes dritte Buch!) (23)




  1. https://www.bertelsmann.de/bereiche/bertelsmann-education-group/#st-1, entnommen am: 16.11.2020, 13:18 Uhr MEZ

  2. https://www.huffpost.com/highline/article/capitalist-takeover-college/?guccounter=1&guce_referrer=aHR0cHM6Ly93d3cuZ29vZ2xlLmNvbS8&guce_referrer_sig=AQAAAKQRjN1dpVPoOKZuwxJx8cXASV2tnT-52knPa1MeaRQjtliZt0uF6m043KBmFTIkkmgbldqOZOl49VA7fOrgpIhiBekO5HyEhC1uHLiNvlLdojzYIzgmUS8OXKLh3pVauXOqXIEy6qJqLXqnvOV2KJDEPuItO9dsF-qpYtI2kQrg, entnommen am: 16.11.2020, 13:51 MEZ

  3. Insa Sjurts, "Think global, act local - Internationalisierungsstrategien deutscher Medienkonzerne", in: APuZ B 12-13/2004, S. 22-29 (S. 22)

  4. https://www.wb-web.de/aktuelles/die-digitale-bildungswirtschaft-in-zeiten-von-corona-profiteur-oder-opfer.html, entnommen am: 17.11.2020, 14:06 MEZ

  5. https://www.deutschlandfunk.de/schule-in-coronazeiten-fuer-den-hybriden-unterricht-ist.694.de.html?dram:article_id=487458, entnommen am: 17.11.2020, 18:01 MEZ10:29 MEZ

  6. https://www.bmbf.de/de/karliczek-mahnt-laender-zur-umsetzung-der-corona-schulkonzepte-12308.html, entnommen am: 18.11.2020, 10:39 MEZ

  7. https://www.stol.it/artikel/kultur/eu-kommission-will-digitale-bildung-nach-corona-krise-anschieben, entnommen am: 18.11.2020, 10:44 MEZ

  8. https://www.deutschlandfunk.de/digitaler-unterricht-in-der-coronakrise-bildungsexpertin.694.de.html?dram:article_id=487699, entnommen am: 18.11.2020, 12:06 MEZ

  9. Christina Anger & Axel Plünnecke: "INSM-Bildungsmonitor 2020. Schulische Bildung in Zeiten der Corona-Krise (Studie des Instituts für deutsche Wirtschaft Köln im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft)", PDF (Köln, 14.08.2020), S. 118-120

  10. https://www.digitalisierung-bildung.de/2020/10/26/chancengerechtigkeit-statt-foederaler-verteilungskaempfe/, entnommen am: 17.11.2020, 15:11 MEZ

  11. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Bertelsmann_Stiftung, entnommen am: 17.11.2020, 15:37 MEZ

  12. https://www.digitalisierung-bildung.de/, entnommen am: 18.11.2020, 13:33 MEZ

  13. https://bildungsklick.de/schule/detail/professionelle-bildungsmedien-fuer-die-digitale-welt, entnommen am: 18.11.2020, 11:09 MEZ

  14. Bertelsmann Stiftung (Kirstin Witte & Carsten Große Starmann): "Smart Country - Vernetzt. Intelligent. Digital. Forderungskatalog für ein digitales Deutschland", PDF (Gütersloh, 2017)

  15. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/vorsicht-stiftung, entnommen am: 18.11.2020, 11:39 MEZ

  16. https://www.mmb-institut.de/aktuelles/neuer-monitor-zur-digitalisierung-in-der-weiterbildung/, entnommen am: 18.11.2020, 13:03 MEZ

  17. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/teilhabe-in-einer-digitalisierten-welt/projektthemen/projektthemen-monitor/, entnommen am: 18.11.2020, 12:25 MEZ

  18. https://initiatived21.de/bildung-in-zeiten-von-corona-zwischen-videokonferenz-und-brief/, entnommen am: 18.11.2020, 13:19 MEZ

  19. https://www.forumbd.de/blog/die-corona-krise-eine-chance-fuer-zeitgemaesses-lernen/, entnommen am: 18.11.2020, 13:05 MEZ

  20. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/mediathek/medien/mid/teachfirst-ein-amerikanisches-bildungsprogramm-fuer-deutschland, entnommen am: 18.11.2020, 14:15 MEZ

  21. https://m.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/corona-und-bildungsoffensive-diese-digitalisierung-macht-den-unterricht-nicht-besser-16924879.html, entnommen am: 18.11.2020, 15:18 MEZ

  22. https://www.heise.de/newsticker/meldung/Edit-Policy-Mit-dem-Bildungstarif-in-die-digitale-Zwei-Klassen-Gesellschaft-4882169.html?seite=all, entnommen am: 18.11.2020, 15:31 MEZ

  23. https://amp-n--tv-de.cdn.ampproject.org/v/s/amp.n-tv.de/wirtschaft/Bertelsmann-kauft-US-Verlagsgruppe-article22192993.html?amp_js_v=a6&amp_gsa=1&usqp=mq331AQFKAGwASA%3D#aoh=16063203882046&csi=1&referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com&amp_tf=Von%20%251%24s&ampshare=https%3A%2F%2Fwww.n-tv.de%2Fwirtschaft%2FBertelsmann-kauft-US-Verlagsgruppe-article22192993.html, entnommen am: 25.11.2020, 18:08 MEZ





Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

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