Sonntag, 25. März 2018

Über den Alltagsgebrauch des Worts Rassismus

Als Soziologe freut es mich sehr, wenn Fachkollegen sich zu Themen vernehmen lassen, die einen alltagsweltlichen Bezug haben. Gleichzeitig betrübt mich, dass dies allzu oft in einem Duktus der akademischen Unverständlichkeit geschieht. Soziologen berauben sich damit der Chance, die Stimme der wissenschaftlichen Vernunft wahrnehmbar zu machen - gerade auch für Menschen, deren Gewohnheit nicht darin besteht, Diskurse zu analysieren und die Legitimität von Narrativen zu beurteilen. Dabei ist die Stimme der Soziologie gerade in unseren Zeiten der neuen Irrationalität, von Hatespeech und der  argumentativen Verkümmerung wichtig wie selten zuvor.
Der Begriff Rassismus ist in aller Munde. Und natürlich sind die fachsoziologischen Veröffentlichungen zum Thema Legion. Dabei wird jedoch vernachlässigt, die Erkenntnisse der Disziplin so zu trivialisieren und aufzubereiten, dass ein breiteres Publikum von ihnen profitieren könnte. Wenn etwa einschlägige Fachpublikationen von Begriffen wie Critical Whiteness, Cultural Models, Ethnisierung, Postkolonialismus usw. nur so strotzen, darf sich die Disziplin nicht darüber wundern, wenn an sie der Vorwurf adressiert wird, nur noch selbstreferenziell um abstrakte Konstrukte zu kreisen. Dann verdammt sich die Soziologie selbst, die ja, Luhmann folgend, Wissenschaft von der Gesellschaft in der Gesellschaft sein sollte, zur gesellschaftlich-politischen Bedeutungslosigkeit und gibt das leicht lächerliche Bild einer Gemeinschaft von Leuten, die sich in esoterischem Wortgeklingel üben. 
Eine typische Argumentationsfigur der sogenannten Neuen Rechten oder <Identitären> erlaubt es mir, das Thema bei den Hörnern zu packen. Sie funktioniert etwa so: Wenn, so wird argumentiert, sogenannte <Gutmenschen> Vertretern der Neuen Rechten oder den <Identitären> Rassismus unterstellen, dann bedienten sich eben jene <Gutmenschen> genau des Konzepts, das sie ja eigentlich verurteilen würden. Kurz gesagt, ließe sich diese rechte Argumentationsfigur so zuspitzen: Wer von Rassismus spricht, ist selber ein Rassist.
Was auf den ersten Blick als ein bestechendes Argument erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als billiger Trick eines sophistischen Straßenzauberers. Wenn wir über ein Phänomen sprechen, Bewertungen vornehmen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als diesem Phänomen einen Namen zu geben, es zu bezeichnen. Und wenn wir es dann aussprechen, um die Einstellungen des Gegenübers zu kennzeichnen oder gar zu kritisieren, dann läuft man eben leicht Gefahr, dass der Kritisierte einem die Bezeichnung als Return wie in einem Tennisspiel wieder um die Ohren haut.
Interessant an diesem Return ist ja zunächst einmal, dass auch der neurechte Gegenspieler zumindest so tun muss, als sei Rassismus etwas Negatives, ansonsten vergäbe dieser sich ja der Möglichkeit der Diskreditierung des <gutmenschlichen> Gegenübers. Dann ist an dem Konzept etwas Weiteres wichtig und interessant. Rassismus ist ein prozessualer Begriff, will sagen: der glasklare Rassist und der ebenso reine Antirassist bilden Endpunkte auf dem Kontinuum des Rassismuskonzepts. Daraus folgt etwas sehr Wesentliches. Insbesondere derjenige, der seinem Gegenüber den Vorwurf des Rassismus macht, muss stets jeweils den eigenen Standpunkt, die jeweils eigene Haltung in dieser Frage kritisch mitreflektieren. Denn rassistische Vorurteile fallen ja nicht einfach vom Himmel, sondern werden anerzogen, über sozialisatorische Instanzen (Peer Groups, Vereine, Bildungseinrichtungen etc.) gelernt und über Verbreitungsmedien alten und multimedialen neuen Typs vermittelt. Somit kann die neurechte, <identitäre> Argumentatuonsfigur sogar produktiv fruchtbar gemacht werden. Der Imperativ lautete dann: Der, der du mich einen Rassisten nennst, überprüfe dich zunächst einmal selbst, ob du dich stets vorurteilsfrei durch die Welt bewegst. Und sofern dieser Imperativ dann auch von dem neurechten oder <identitären> Gegenüber beherzigt würde, wäre für die Überwindung rassistischer Stereotype viel gewonnen. Dass hier allerdings Zweifel anzumelden sind, steht auf einem anderen Blatt.
Viel interessanter als Neurechte oder <Identitäre> zu überzeugen, erscheint es mir allerdings, den Imperativ, den ich aus der Kritik ihrer Argumentationsstruktur abgeleitet habe, im Alltagszusammenhang zu verwenden. Einmal ganz konkret auch auf mich selbst bezogen: Bin ich wirklich immer vorurteilsfrei? - Besser noch: Ich weiß ganz genau, nie zu 100 Prozent vorurteilsbefreit sein zu können. Bin ich mir aber darüber im Klaren, funktioniert mein kritischer Verstand, erkenne ich Vorurteile als solche, wenn sie sich doch einmal wieder Bahn brechen oder gar Bahn gebrochen haben?
Und dies lenkt dann abschließend meinen soziologischen Blick auf jene von den Neuen Rechten und <Identitären> gern als <Gutmenschen> Verspotteten. Und hier bleibt mir nur kritisch zu sagen: Ja, auch jene, die lautstark ihren Mund aufreißen und für sich Antirassismus reklamieren, sollten den Imperativ beherzigen. Nichts anderes besagt ja der Ansatz des Critical Whiteness. Konkret einige Beispiele:  Die weiße, privilegierte Feministin aus der Kreativwirtschaft sollte beim Thema Antirassismus kleinlauter sein, wenn sie sich ihre Designer-Wohnung von einer gering entlohnten Putze reinigen lässt. Oder: Der in der Flüchtlingshilfe engagierte Alt-Studienrat, der noch mal in der Deutsch-Gruppe den obermackernden Lehrer heraushängen lässt und freimütig Lob nach dem Motto <Du sprichst aber schon ganz toll Deutsch> verteilt, sollte in einer stillen Stunde mal darüber nachdenken, dass Diskriminierung positiv viel subtiler funktioniert als andersherum.
Insofern kann die Auseinandersetzung mit Neuen Rechten oder <Identitären> am Ende dazu beitragen, den je eigenen Balken im Auge zu erkennen.

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