Montag, 4. September 2023

Steffen Roski: Die Inszenierung des Social-Media-Syndroms "Drachenlord"

Wenn Sozialwissenschaftler über Medien forschen, beziehen sie sich in der Regel auf die geheiligte Sphäre des seriösen Journalismus mit seinen paradigmatischen Leitsternen wie SZ, F.A.Z., DIE ZEIT, DER SPIEGEL usw. Der Diskurs ist eingeübt, gepflegt, es wird feinsten Nuancen größte Beachtung geschenkt. Wir dürfen beobachten, wie die Forschung gerade die Facetten der "Causa Aiwanger" im Spiegelkabinett der Medienkritik detailreich analysiert.


Weit weniger Beachtung wird dagegen jenen trüben Social-Media-Gewässern gewidmet, in denen sich die auf ihren Gaming-Stühlen und abgewetzten Sofas lümmelnden mehr oder weniger professionellen Online-Bettler tummeln, die ihrem Publikum zu jeder Tages- und Nachtzeit ein wenig Kleingeld aus dem Kreuz zu leiern bestrebt sind. 


Hierarchisierte man die BRD-Medien pyramidal, so fände man an ihrer Spitze die sog. "Leitmedien" (FAZ, Spiegel & Co.) und ganz unten auf dem breiten Grund der Pyramide eben jene Bettel-Kanäle, von denen TikTok eine unrühmliche Prominenz erlangt hat.


Es gibt kaum Abstoßenderes als erwachsenen Menschen dabei zuzusehen, wie sie ihrer juvenilen Zuseherschaft etwas von ihrem Taschengeld abzupressen suchen, indem sie diese dazu auffordern zu "tippen, tippen, tippen, liken,  liken, liken". 


Zum Kreis jener Berufsbettler zählt auch der sog. "Drachenlord", bürgerlich Rainer Winkler. Gerichtsfest als "vermindert intelligent" eingestuft, stammelt sich dieser sprachlich unbeholfen und limitiert allabendlich mit breitem fränkischen Akzent durch zahlreiche Streams und "Live-Matches", um von seiner TikTok-Anhängerschaft, den sog. "Drachis",  seinen Lebensunterhalt zusammenzuschnorren.


Im Jahre 2021 wurde R. Winkler wegen gefährlicher Körperverletzung und anderer Straftaten rechtskräftig verurteilt.  Interessanterweise erregte der zu seiner Verurteilung führende Gerichtsprozess die Aufmerksamkeit ausgerechnet eines führenden BRD-Leitmediums. 


In Gestalt des Autoren und Internet-Strategieberaters Sascha Lobo widmete DER SPIEGEL im Jahre 2021 in seiner Online-Ausgabe einen Meinungsbeitrag zum sog. "Drachenlord". Lobo, ein Bourgeois mit der Attitüde eines Cyberpunks, führt die Spiegel-Leserschaft als Erklärbär durch die Weiten des Internets und der virtuellen Welten. Dass nun ausgerechnet R. Winkler Lobos Aufmerksamkeit gefunden hat, überrascht dann aber doch.


Seine Einlassungen zum sog. "Drachenlord" verdienen m.E. unbedingt der näheren Betrachtung, weil sich S. Lobo als ein äußerst manipulativer und geschickter Falschspieler erweist, der möglicherweise weit mehr im Schilde führt als es bei oberflächlicher Betrachtungsweise den Anschein hat.


Aber der Reihe nach. Ich werde zunächst einmal die Argumentationslinie von S. Lobos Spiegel-Online-Veröffentlichung nachzeichnen:


Aufgemacht ist sein Meinungsbeitrag damit, dass es sich im Fall des sog. "Drachenlord" um ein in der BRD von niemandem aufgehaltenes "Martyrium" handele.


S. Lobo wirft der Justiz vor, sich in Gestalt einer Staatsanwältin und einer Richterin "faktisch an die Spitze eines hochorganisierten Internetmobs gesetzt" zu haben. Diese Meute sei hinter jemanden her, der eigentlich nichts Ungewöhnliches mache und sein Geld damit verdiene, "einige Facetten seines Lebens ins Netz zu stellen". Und weiter heißt es: "Weil er ist, wie er ist, und wagt, sich in der Netzöffentlichkeit zu zeigen, wird er seit 2013 ausnahmslos jeden Tag von einem Zehntausende Menschen starken Hassmob gequält." Bei R. Winkler handele es sich um ein einzelnes Opfer, das immer wieder von tausenden Tätern verfolgt werde. Dabei schaue ihm ungeheuerlicher Weise ein Millionenpublikum belustigt zu. Es handele sich bei all dem um "die extremste Form des Cybermobbing in Deutschland". Der Staat habe es nicht nur versäumt, R. Winkler zu schützen, nein, er, so S. Lobo, mobbe selbst kräftig mit. Die Diagnose des Spiegel-Internetsachverständigen ist denn an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen, wenn er eine "katastrophale Versagensgeschichte der digitalen Gesellschaft, verantwortet von Medien, Politik, Exekutive, Jurisdiktion und dem Publikum" diagnostiziert.


Die Liste der teilweise strafwürdigen Angriffe auf den sog. "Drachenlord" ist lang und S. Lobo führt folgende Punkte auf: Beleidigungen, Bedrohungen, Herabwürdigungen, Attacken auf das Haus von R. Winkler, Fake-Bestellungen, tätliche Angriffe, Beleidigungen und Schmähungen von Familienangehörigen, eine Grabschändung, gezielte Provokationen verschiedenster Art, die ihn zu unbedachten Reaktionen veranlassen sollen, die dann wiederum von seinen Widersachern ins Netz gestellt würden. R. Winkler werde ohne jeden Ausweg für ihn tagein, tagaus gequält.


Relativ ausführlich schildert S. Lobo eine Begebenheit, die über die sozialen Netzwerke hinaus Aufmerksamkeit gefunden hat. R. Winkler hatte sich online in eine junge Frau verliebt, die dessen Avancen eine Zeitlang scheinbar erwiderte. Als der sog. "Drachenlord" dieser schließlich coram publico einen Heiratsantrag unterbreitete, lehnte sie diesen nicht nur ab, sondern bezeichnete Winkler - zum Gefallen des "Mobs", vom sog. "Drachenlord" auch "Hater" genannt - zudem als dickleibigen Idioten.


Resümierend kritisiert S. Lobo "die Medien" dafür, R. Winkler unterstellt zu haben, all das, was diesem durch "die Hater", eine Gruppe "faschistoide(r) Menschenfeinde", widerfahren sei, selbst so gewollt zu haben. Tatsächlich, so Lobo, habe dieser nie eine andere Wahl gehabt, als sich unter Anwendung von Gewalt zur Wehr zu setzen, denn das Ziel des Hater-Spiels habe darin bestanden, ihn "in den Selbstmord zu treiben". 


S. Lobo macht sich zum uneingeschränkten Fürsprecher R. Winklers und konstatiert ein katastrophales Versagen von Justiz, Medien und Gesellschaft, denen er vorwirft, "eine der schlimmsten Opferverhöhnungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" begangen zu haben: ein unwissender und zynischer Staat als Mit-Mobber sozusagen, der dem Hassmob nichts entgegenzusetzen habe.


Eine Frage drängt sich abschließend auf: Gäbe es für R. Winkler nicht einfach die Möglichkeit, sich aus den Social Media zurückzuziehen und die Kunstfigur "Drachenlord" ad acta zu legen? Internet-Guru S. Lobo erteilt diesen naheliegenden Rat nun gerade nicht. Er schreibt: "Winkler verdient sein Geld mit seinen Netzauftritten, er kann nichts anderes. Das aufzugeben, würde ihn ins Nichts stürzen." Das wäre ungefähr so, fährt Lobo fort, "als würde man einem Opfer häufiger Raubüberfälle vorschlagen, einfach nicht mehr zur Arbeit zu gehen, damit die Raubüberfälle aufhören."


Wenn ein meinungsstarkes Medium wie DER SPIEGEL das soziale Problem "Mobbing" thematisiert und in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit rückt, ist dies nur allzu berechtigt und notwendig. Dass S. Lobo allerdings ausgerechnet den sog. "Drachenlord" als paradigmatisches Fallbeispiel heranführt, wird der Bedeutung dieses sozialen Problems in keiner Weise gerecht.


R. Winkler hat sich dazu entschlossen, sich in die Arena der Social Media zu begeben. Durch diese Arena führen keine glatt gepflasterten Boulevards, auf denen Stars und Sternchen flanieren. Die Pflaster der Seitenstraßen sozialer Medien sind rau, der Umgangston ist eher ungehobelt, man sagt jemandem etwas nicht ins Gesicht, sondern direkt "in die Fresse". 


Und genau in dieser Arena trachtet R. Winkler sich zu behaupten. Es wird ausgeteilt und eingesteckt, provoziert und reagiert. Dass ausgerechnet der Internetversteher S. Lobo dieses Geschäftsmodell des wechselseitigen Anstachelns, im Falle R. Winklers und seinen "Hatern" auch "Drachen-Game" genannt, mit und durch "Reactions" mit Mobbing verwechselt, verwundert mich sehr.


Um es klar zu sagen: Der sog. "Drachenlord" ist ganz sicher kein Mobbing-Opfer. Vielmehr geriert sich diese Social-Media-Figur als ein solches, um möglichst viel Profit aus der eingenommen Opferrolle zu schlagen. Extreme Formen des Cybermobbing finden in der BRD wahrscheinlich tausendfach tagtäglich gerade nicht vor einem Millionenpublikum statt. Sie geschehen immer wieder unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle. Ausgerechnet R. Winkler, der monatlich mehrere Tausend Euro von seinen Followern dafür erhält, sein "Martyrium" zu inszenieren, gleichsam zum Anwalt von jungen Menschen zu machen, die tatsächlich Mobbingangriffen ausgesetzt sind, verdreht die Tatsachen eklatant. S. Lobo wird dem Thema nicht nur nicht gerecht, nein, er verhöhnt die tatsächlich Betroffenen obendrein noch.


Am Rande sei angemerkt, dass die von S. Lobo als Beispiel für des "Drachenlords" Martyrium herangeführte Episode des gescheiterten Heiratsantrags sich auch ganz anders lesen lässt. Wie viele junge Frauen müssen sich immer wieder in Internet-Chats widerlichen Nachstellungen weit älterer männlicher User aussetzen? Ist es nicht eher ein Zeichen von widerständiger Stärke und Empowerment, wenn solcherlei Sexting offensiv begegnet wird?


Völlig absurd wird S. Lobos Verteidigung des sog. "Drachenlords", wenn er den jederzeit möglichen Rückzug R. Winklers aus dem Internet als ein Ding der Unmöglichkeit mit dem Argument vom Tisch wischt, dieser könne ja nichts anderes, sei also auf Gedeih und Verderb an den Gaming-Stuhl gefesselt. Einmal abgesehen davon, dass dies in Anbetracht der Fülle bestehender biografischer Entfaltungsmöglichkeiten völliger Unsinn ist, bestärkt der Spiegel-Meinungsmacher einen Menschen darin, einen Weg weiter zu verfolgen, von dem angenommen werden kann, dass dieser über kurz oder lang in den Abgrund führen wird. Der inzwischen 34-jährige R. Winkler wird mit jedem Jahr, das er bettelnd und schnorrend auf Social-Media-Kanälen verbringt, immer weniger in der Lage sein, einen Ausweg aus dieser Abhängigkeit zu finden. Indem S. Lobo den sog. "Drachenlord" darin bestärkt, sich selbst tagtäglich als "Mobbing-Opfer" zu inszenieren, führt er damit einen Abhängigen nur immer weiter in die Abgründe der Sucht. Verantwortungsvoll ist solcherlei Co-Abhängigkeit niemals!


Ich möchte vermuten, dass sich S. Lobo über diese Zusammenhänge auch vollkommen im Klaren ist. Was könnte ihn also dazu bewegen, sich zum Fürsprecher des "Drachenlord" zu machen?


Die Antwort liegt in der kühlen Profitlogik des Mediensystems. Ich möchte behaupten, dass es sich beim sog. "Drachenlord" um eine der bestdokumentierten Biografien in der BRD handelt. Das gestreamte Material in Gänze zu sichten würde wohl locker ganze Wochen Zeit beanspruchen. Eine Fundgrube also für einen Mediendeal: Wie wäre es mit einer Thematisierung von Mobbing am Beispiel von R. Winkler im Serienformat? Erste Ansätze dazu in herkömmlichen Medien hat es bereits gegeben. Hier vermute ich denn auch die wahre Intention S. Lobos: Der sog. "Drachenlord" möge seine Mobbing-Inszenierung unbedingt fortsetzen. Käme es zu einer umfangreichen medialen Verwertung dieser, so hätte S. Lobo sozusagen "den Fuß mit in der Tür". Kreative Manipulatoren und schreibende Hochstapler vom Schlage eines Claas Relotius und Fabian Wolff gibt es gewiss zuhauf. DER SPIEGEL und viele andere deutschsprachige "Leitmedien" wissen ein Lied davon zu singen. Ob sie daraus Lehren ziehen, dürfte bezweifelt werden. Spätestens dann, wenn etwa eine Überschrift lauten könnte: "Der Drachenlord. Eine der schlimmsten Opferverhöhnungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" sollte man wissen, dass mit der banalen Wahrheit kreativ Schindluder getrieben würde.



Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

Freitag, 24. Februar 2023

Steffen Roski: Zur Soziologie der Stiftung - eine Arbeitsskizze

In den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften des europäischen Hochmittelalters bildeten sich auf der Grundlage eines im Grundsatz zu erhaltenen Geldvermögens Stiftungen, also körperschaftsähnliche Vereinigungen von Geistlichen, die sowohl nach kirchlichem als auch nach weltlichem Recht Autonomie beanspruchen konnten, heraus, um bestimmte Zwecke dauerhaft zu verfolgen. Nutznießer solcher Stiftungen waren vor allem Kirchengemeinden und Klöster, die im Gegenzug dem Stifter zu Messen zugunsten seines Heils verpflichtet waren. Zweck, Vermögen und Organisation sind von Anbeginn an die konstitutiven Merkmale der Stiftung als sozialer Form. In globalhistorischer Betrachtung lässt sich das Auftreten von Stiftungen weltweit wohl mit dem Auftreten landwirtschaftlicher Überproduktion in so verschiedenen Regionen wie Mesopotamien,  Ägypten und Südamerika vermuten. 

Im Zuge des Übergangs von der strikt ständisch differenzierten zur funktional differenzierten Gesellschaft der frühen Neuzeit wird das Monopol des kirchlich-katholischen Stiftungswesens sukzessive durch bürgerliche Stiftungsgründungen infrage gestellt und im Laufe der Reformation in den meisten protestantischen Landesteilen zerschlagen. Eine Renaissance des Stiftungswesens lässt sich erst vor dem Hintergrund zunehmend autonomer staatlich-politischer und ökonomischer Sphären sowie einem Strukturwandel der Öffentlichkeit hin zu einer selbstbewussten Zivilgesellschaft feststellen. Auf die vermehrten philanthropischen Stiftungsgründungen z.B. in den Bereichen von Wissenschaft und Kunst reagierte das positive Recht mit der Figur der staatlich genehmigten rechtsfähigen Stiftung, während im anglo-amerikanischen Rechtskreis das Institut des „charitable trust“ bestimmend blieb.

Vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und der Geldvernichtung im Zuge der Hyperinflation wurde das deutsche Stiftungswesen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast zur Gänze eliminiert und konnte erst seit den 1950er und 1960er Jahren wieder regeneriert werden. Zunehmender ökonomischer Wohlstand sowie eine begünstigende politische Reformgesetzgebung haben Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass in Deutschland im Jahr 2018 ca. 22.000 rechtsfähige Stiftungen verzeichnet werden konnten.
Wiewohl ich in meinem Dissertationsvorhaben das Wirken von Stiftungen in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr 2001 (mit dem Epochenbruch des 11.9.) in verschiedenen Feldern des politischen Systems (policies) untersuchen möchte, ist zunächst eine genauere Betrachtung des geschichtlichen Grundbegriffs „Stiftung“ geboten. Im Sinne des Luhmannschen Forschungsprogramms, das in „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ sowie in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ ausgearbeitet vorliegt, erscheint mir die Betrachtung der Genese von Stiftung als einer spezifischen sozialen Form gewinnbringend zu sein.

Vor dem Hintergrund dieses gesellschaftsstrukturell-wissenssoziologischen Programms soll von vornhinein eine Verengung der Betrachtung der sozialen Form „Stiftung“ als rein organisationssoziologischem Phänomen vermieden werden. Es geht mir gerade um den Zusammenhang von Organisation und Gesellschaft und die Frage danach, wie Stiftungsorganisationen „den gesellschaftlichen Umgang mit sozialen Problemen und aktuellen Herausforderungen formen.“ (Arnold, Hasse & Mormann 2022, S. 419) Zivilgesellschaftlich hat nämlich insbesondere das Aufkommen großer unternehmensverbundener Stiftungen eine Diskussion über die gesellschaftliche Funktion von Stiftungen ausgelöst. Diese aktuellen Debatten in Politik und Zivilgesellschaft sollen nachgezeichnet und durch Beispiele des Stiftungshandelns in verschiedenen Politikfeldern konturiert werden.
Zuspitzen lässt sich folgende soziologisch-theoretische Fragestellung: Leisten Stiftungen als treuhänderischer Akteur in der „Civil Sphere“ (Jeffrey C. Alexander) einen unverzichtbaren Beitrag zur Etablierung einer gerechten sozialen Ordnung (Talcott Parsons & Gerald M. Platt)? Oder aber erscheinen Stiftungen ganz im Sinne des kulturell ausgedeuteten Marxismus Antonio Gramscis als hegemonialer gesellschaftlicher Akteur, der das noch immer dominierende neoliberale Akkumulationsregime zu stützen hilft. Stiftungen wären dann im Sinne einer „Radikalen Demokratietheorie“ (Ernesto Laclau & Chantal Mouffe) wohl eher kritisch zu sehen. Wahrscheinlich werden beide Positionen, die parsonianische als auch die radikal-demokratietheoretische, Licht auf das komplexe Wechselverhältnis von Stiftungsorganisationen und moderner Gesellschaft werfen helfen.

Literatur:

Jeffrey C. Alexander (2006): The Civil Sphere, Oxford & New York: Oxford University Press 
Nadine Arnold, Raimund Hasse & Hannah Mormann (2022): Editorial, in: dies. (Hrsg.), Organisationsgesellschaft „reloaded“ (Sonderheft „Soziale Welt“ 3/2022), S. 419-424
Thomas Biebricher (2021): Die politische Theorie des Neoliberalismus, Berlin: Suhrkamp 
Antonio Gramsci (2012-2019): Gefängnishefte, Hamburg: Argument (Hrsg. v. Klaus Bochmann & Wolfgang Fritz Haug, Übersetzt v. Ruedi Graf, Peter Jehle, Gerhard Kuck, Joachim Meinert & Leonie Schroeder)
Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp (Neuauflage)
Rainer Hüttemann (2023): Stiftung (Version 08.06.2022, 09:10 Uhr), in: Staatslexikon online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Stiftung (abgerufen 05.02.2023)
Ernesto Laclau & Chantal Mouffe (2015): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen-Verlag (Hrsg. u. übersetzt v. Michael Hintz & Gerd Vorwallner, 5. Auflage)
Niklas Luhmann (2018): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp (2 Teilbände, 10. Auflage)
Talcott Parsons & Gerald M. Platt (1990): Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt/M.: Suhrkamp (Übersetzt v. Michael Bischoff)







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Dienstag, 24. Mai 2022

Steffen Roski: Aus der Praxis von Dialog in Deutsch


Auf den Internetseiten der Hamburger Bücherhallen beschreibt sich das interkulturelle Sprachangebot "Dialog in Deutsch" (DiD) selbst durch folgende Merkmale: Das Angebot ist  öffentlich, kostenlos, versteht sich als politisch und religiös-weltanschaulich neutral, bietet Bildungsinhalte, nutzt die vielfältigen Kompetenzen in den Bereichen Wissen, Sprache und Medien der Hamburger Bücherhallen sowie deren bibliothekarischen Fachpersonals. Jede DiD-Gruppenstunde ist eine Übung in Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen und Lebenswelten.


Der Rahmen der Gruppenstunden ist geschützt, die Teilnehmenden finden mit ihren jeweiligen Sprachniveaus Zugang, d. h. jede*r Ankommende wird angenommen. Im Kern geht es um einen lebensweltlich-praktischen Umgang mit Sprache in einem Kontext multi-ethnischer Vielfalt. Im Vordergrund steht, Raum und Möglichkeit für Gespräch, 

Austausch, Kontaktaufnahme und Informationen für diejenigen zu bieten, die ihre erlernten Deutschkenntnisse praktisch anwenden wollen. Die DiD-Gruppengespräche sollen dazu beitragen, dass Teilnehmende sich sicherer der alltäglichen Lebenspraxis und dem gesellschaftlichen Miteinander stellen können.


Getragen wird DiD von der engagierten Zusammenarbeit von hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der Bücherhallen Hamburg. Seit vielen Jahren ist auch der Autor in den Räumen der Hamburger Zentralbibliothek am Hühnerposten für DiD als Gruppenleiter aktiv. Mir geht es im Folgenden darum, einen Einblick in den konkreten Ablauf von DiD-Gruppenstunden, also einen Blick in die DiD-Praxis aus der individuellen Perspektive eines Ehrenamtlichen zu geben.


Im Folgenden möchte ich zunächst die Sequenz einer DiD-Gruppenstunde skizzieren, so wie sich dies für mich Woche für Woche darstellt. Abschließend sollen einige wenige sozialtheoretische Überlegungen das Dialog-in-Deutsch-Projekt in einen wissenschaftlich-gesellschaftlichen Kontext rücken.


"Du" oder "Sie"


Nachdem die Teilnehmenden Platz genommen haben und somit angekommen sind, stellt sich zuerst die Frage, ob das "Du" oder die "Sie"-Form im Verlauf der Stunde verwendet werden sollen. Meist präferieren die Teilnehmenden das "Du", insbesondere dann, wenn vorwiegend junge Erwachsene in der Mehrzahl sind. Doch lohnt es sich, das Thema Nähe und Distanz in der Wahl der Anredeform zum Gegenstand des Dialogs zu machen, was insbesondere dann geboten ist, wenn es in der Stunde etwa darum geht, darüber zu reden, worauf es ankommt, wenn ein Termin in einer offiziellen Einrichtung (Behörde, Arbeitsagentur, Jobcenter etc.) wahrzunehmen ist. Auch thematisiert werden könnten die diversen Schattierungen des "Du": welcher Unterschied besteht etwa zwischen dieser Anrede in der DiD-Gruppenstunde und ihrer Verwendung in Freundschafts- oder Intimbeziehungen. Auf jeden Fall erscheint mir wichtig, diese Frage zu Beginn jeder Stunde zu erörtern.


Überblick über den Verlauf der DiD-Gruppenstunde


Nachdem die Anredeform besprochen und gemeinsam vereinbart worden ist, gebe ich in knapper Form einen Überblick über den Verlauf der DiD-Gruppenstunde: ["Wir beginnen die Stunde mit einer Vorstellungsrunde, überlegen dann, worüber wir heute miteinander sprechen wollen, treten dann in den Dialog ein und beenden die Stunde mit einer Abschluss- oder Feedbackrunde."] Diese Struktur der DiD-Gruppenstunde erscheint zudem visuell auf dem Smartboard, wobei ich auf Wunsch von Teilnehmenden mir angewöhnt habe, bei Nomen stets auch den Artikel hinzuzufügen, sodass folgender Text erscheint: ["Willkommen zu 'Dialog in Deutsch': (1) (die) Vorstellungsrunde, (2) Themen finden, (3) (der) Dialog, (4) (die) Abschluss- oder Feedbackrunde"] Die Vorgabe dieser Grundstruktur ist allgemein genug, um in allen vier Phasen den Teilnehmenden größtmögliche Partizipationsräume zu eröffnen, dabei ist sie zugleich so präzise, dass der Ablauf der DiD-Gruppenstunde klar und transparent gemacht werden kann.


Die Vorstellungsrunde


Ein wichtiger Anker jeder DiD-Gruppenstunde stellt die Vorstellungsrunde dar. Sie bietet gleich zum Einstieg in den Gruppenprozess den Teilnehmenden je individuell die Möglichkeit, sich selbst den anderen zu präsentieren. Als Gruppenleitung beginne ich oft damit, mich selbst den Teilnehmenden vorzustellen und damit ein Muster vorzuschlagen, auf das Teilnehmende zurückgreifen können, die sich möglicherweise sprachlich noch etwas unsicher fühlen: ["Mein Name ist Steffen, ich bin 56 Jahre alt, lebe seit 10 Jahren in Hamburg, bin geschieden und habe einen Sohn, der in Köln studiert."] Der Vorstellungsrunde sollte auf jeden Fall so viel Zeit eingeräumt werden, dass alle Teilnehmenden ohne Druck etwas Persönliches von sich preisgeben können und sei es nur der Vorname und das Alter. Zumeist jedoch erwähnen die Teilnehmenden auch das Land ihrer Herkunft, was natürlich etwas Zentrales über die je eigene Identität zum Ausdruck bringt. Selbstverständlich mag sich bereits aus der Vorstellungsrunde ein Thema für den folgenden Dialog ergeben, was insbesondere dann der Fall ist, wenn in die Selbstpräsentation etwa Hobbys oder sonstige Aktivitäten Eingang finden. 


Themen finden


Zuweilen kann die Themenfindung eine Hürde in der DiD-Gruppenstunde darstellen. Für mich gilt folgende Faustregel: Eigene Gesprächsimpulse werden denjenigen von Teilnehmenden nachgeordnet. Anders ausgedrückt: Je mehr Gesprächsofferten aus dem Kreis der Teilnehmenden, desto besser! Und natürlich gibt es eine große Vielfalt solcher Impulse: Teilnehmende mögen z.B. nach einem Wort oder eine ihnen im Alltag begegnende Äußerung fragen, dessen oder deren Bedeutung unklar ist. Durchaus nicht ungewöhnlich ist es, wenn auf die Frage nach einem Themenvorschlag - aus welchen Gründen auch immer - nicht sogleich eine Reaktion aus der DiD-Gruppe kommt. Das ist erst einmal gar nicht so schlimm, weil ja in einer solchen Schweigephase bei den meisten Teilnehmenden eine Reflexion zustande kommt. Pausen und Gesprächsunterbrechungen erzeugen oft unnötigerweise bei der Gruppenleitung eine innere Unruhe. Es lohnt sich aber, dies der Gruppe gegenüber offen zu artikulieren, weil damit dann möglicherweise schon ein Thema der DiD-Gruppenstunde gefunden worden ist: ["Wenn sich Menschen, die sich nicht gut kennen, treffen, wissen sie manchmal nicht, worüber sie reden sollen. Woran kann das liegen?"] 


Der Dialog


Um an die gerade gestellte Frage anzuknüpfen: vielleicht ergibt sich ja bei der Themenfindung, dass Leute bloß übers Wetter reden, um überhaupt ein Gespräch miteinander zustande zu bringen. Nun, dann redet die DiD-Gruppe eben übers Wetter, warum denn auch nicht? Leicht ließe sich da ein Hamburg-Bezug herstellen. Auf dem Smartboard könnte etwa erscheinen: ["Hamburger sagen in der Umgangssprache manchmal: 'Dieses Schietwetter kann ich nich ab'."] Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich daraufhin ganz zwanglos ein DiD-Gruppengespräch entspannen wird. Sollte sich das Thema ["Wetter"] inhaltlich erschöpft haben, lässt sich dessen sprachliches Potenzial im Weiteren nutzen: ["In formaler Sprache würde man sagen: 'Wenn das Wetter dauernd schlecht ist, dann mag ich das nicht.'"] Ich bin immer wieder überrascht, wie rasant eine DiD-Gruppenstunde vorüber geht. Das Einkuppeln einer sprachlichen Referenzebene - das kann, wie im Beispiel, eine formalsprachliche Übersetzung eines alltagssprachlichen Ausdrucks sein; denkbar wäre auch die Erläuterung einer grammatischen Struktur oder Grundregel etc. - erlaubt, das thematisch-inhaltlich Diskutierte im komplexen Gewebe der Sprache zu verankern. 


Die Abschluss- oder Feedbackrunde 


Je nach Teilnehmendenzahl räume ich zum Ende der DiD-Gruppenstunde genügend Zeit für eine Rückmeldung ein: ["Wie hat dir die heutige Stunde gefallen?"] Die Abschluss- oder Feedbackrunde gibt den Teilnehmenden die Möglichkeit, rückzumelden, was sie gegebenenfalls aus der Stunde mitgenommen haben. Gab es Kritisches anzumerken? Hat sich die Gruppenleitung klar und verständlich ausgedrückt? Somit ist für mich diese letzte Phase der DiD-Gruppenstunde zugleich der Einstieg in die Reflexion und Selbstevaluation. Beispielsweise habe ich aus einer solchen Abschluss- oder Feedbackrunde die Anregung mitgenommen, Nomen nicht isoliert anzuschreiben, sondern stets den ihnen zugehörigen bestimmten Artikel hinzuzufügen. Eine gute Anregung, wie ich finde!


Sozialtheorie und Dialog in Deutsch 


Gewiss, Dialog-in-Deutsch genügt sich so wie das Projekt konzipiert ist, völlig selbst. Dennoch mag es erhellend sein, die Praxis der DiD-Gruppenstunde in den Kontext gegenwärtiger sozialtheoretischer Debatten zu stellen. Als Ausgangspunkt dient mir dabei folgende Publikation: [Bruno Latour, An Inquiry into Modes of Existence. An Anthropology of the Moderns, Cambridge, Mass.: Harvard UP, 2013] 


Folgende Gesichtspunkte erscheinen mir dabei interessant:


  1. DiD ist ohne Anbindung an eine Organisation [ORG] gar nicht denkbar. Die Bücherhallen Hamburg bieten allein in der Zentralbibliothek über 28.000 Medien in über 27 Sprachen und halten mehr als 7.000 Zeitschriften und Zeitungen aus über 100 Ländern in mehr als 60 Sprachen vor. Dazu kommen vielfältige eLearning- und Online-Sprachkurse, Streaming-Angebote, eBooks, Lehrmaterialien für "Deutsch als Zweitsprache" etc. Die Welt des Wissens, der Bildung und der Wissenschaft [REF] ist entweder physisch oder via Doppelklick [DK] verfügbar. In der Zentralbibliothek steht darüber hinaus ein offenes WLAN zur Verfügung, das die Teilnehmenden der DiD-Gruppenstunden über ihre Smartphones [DK] gern nutzen. Ein Smartboard erlaubt der Gruppenleitung auf das Internet [DK] zuzugreifen und Ergebnisse von Recherchen zu visualisieren und gegebenenfalls weiter zu be- und verarbeiten. DiD stellt somit ein Interaktionsgeschehen im Rahmen eines organisierten Sozialsystems [ORG] dar. Die in diesem Kontext gemachten Erfahrungen fließen wiederum in verschiedenste gesellschaftliche Zusammenhänge ein, wofür der vorliegende Text selbst wiederum ein Beispiel darstellt. Und alles Gesellschaftliche wiederum kann Woche für Woche Thema der DiD-Gruppenstunden werden [Interaktion|Organisation|Gesellschaft; Niklas Luhmann]. Dialog in Deutsch veranschaulicht die Dualität von Handlung einerseits und Struktur andererseits auf sinnfällige Weise [Theorie der Strukturation; Anthony Giddens].

  2. Nicht vergessen werden sollte, dass ein Projekt wie DiD für Menschen, die eine öffentliche Bibliothek [ORG, REF] eher nicht oder sehr selten betreten, eine Art Türöffner darstellen kann. In der Sprache Latours: Der Strom der Gewohnheiten [GEW] wird mit dem Betreten der Bibliothek [ORG, REF], dem Eintritt in den DiD-Gruppenraum und der folgenden Teilnahme an der DiD-Gruppenstunde unterbrochen, was sich bei den Teilnehmenden bemerkbar macht ["Hiatus"]. Die DiD-Gruppenstunde wiederum stellt einen sinnhaften Handlungsverlauf dar, der über riskante Diskontinuitäten hinweg - als Beispiel sei das Finden eines geeigneten Gesprächsthemas (s.o.) genannt - eine wertorientierte Kontinuität erlangt ["Trajektorie"]. Eine DiD-Gruppenstunde ergibt idealerweise einen gerichteten Handlungsbogen (s.d. was oben über den Ablauf der DiD-Gruppenstunde gesagt worden ist), der anhand von spezifischen Maßstäben geprüft und bewertet wird. Dies geschieht am Ende einer jeden DiD-Gruppenstunde in der Abschluss- oder Feedbackrunde ["Gelingens- und Misslingensbedingungen"].

  3. Insgesamt stellt eine DiD-Gruppenstunde einen spezifischen Wertschöpfungsprozess dar und bringt im Erfolgsfall Entitäten ["zu instaurierende Wesen"] hervor, die von den Teilnehmenden und Gruppenleitungen in ihre jeweiligen Lebenswelten mitgenommen werden können und die ohne die Teilnahme an einer DiD-Gruppe so nicht zustande gekommen wären. Dies können z.B. neue Gewohnheiten [GEW], Informationen aus Politik [POL], Recht [LAW] und Religion [REL] sein. Auch ist denkbar, dass Attachments oder Bindungen [BIN] über die Teilnahme an Dialog in Deutsch entstehen und moralische Codes [MOR], Werte und Normen in Frage gestellt, vielleicht gar modifiziert werden. Jedenfalls ist nicht ausgeschlossen, dass die Teilnahme an einer DiD-Gruppenstunde die jeweiligen Lebenswelten auf eine bestimmte Weise verändern und ergänzen mögen ["Alterierung"], indem (1) Handlungen koordiniert werden, (2) Figuren erfunden [FIK] oder (3) Bindungen [BIN] hergestellt werden. [Beispiel für (1): Wie finde ich mich in Hamburgs ÖPNV zurecht?; Beispiel für (2): In der DiD-Gruppenstunde wurde über Aschenputtel gesprochen; Beispiel für (3): Ich habe über DiD eine*n Kunstinteressierte*n kennengelernt und es geht gemeinsam kommende Woche in die Sammlung Falckenberg]

  4. Insgesamt lässt sich am Projekt Dialog in Deutsch der Charakter eines Netzwerks [NET] auf sinnfällige Weise exemplifizieren: selbst ein Netzwerk [NET] im Kontext der Organisationsstruktur [ORG, REF] Bücherhallen trägt DiD Woche für Woche durch gerichtete Vernetzungsvorgänge (DiD-Gruppenstunden) zur Entfaltung vielfältiger Netzwerke [NET] in den diversen Lebenswelten der an DiD Teilnehmenden bei. Und diese Vielfalt an Netzwerken [NET] wiederum wirkt stets aufs Neue und in oft überraschender Weise zurück auf jede DiD-Gruppenstunde.









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Samstag, 3. April 2021

Steffen Roski: Was jetzt für den BvB wichtig ist







Gerade steht es in der Halbzeitpause des wichtigen Spiels gegen Eintracht Frankfurt 1:1. Mats Hummels hat den psychologisch wichtigen Ausgleichstreffer kurz vor dem Pausenpfiff erzielt.

Ausnahmsweise einmal auf meinem Blog etwas zum Thema Fußball. Dass mein Herz Schwarz-Gelb schlägt, ist damit hier auch klargestellt!

Der Grund meiner kommentierenden Kurzintervention indes steht in Zusammenhang mit: Corona. 

Wahrscheinlich wird es im Sommer zum Transfer des norwegischen Goalgetters Erling Haaland kommen. Wohin auch immer, die Ablösesumme dürfte mehr als 150 Millionen Euro betragen.

Angesichts coronabedingt entgangener Zuschauereinnahmen wird dieser Transfer für den Verein wirtschaftlich notwendig werden. 

Für mich ist der entscheidende "Transfer" sowieso dieser: "Aki" Watzke bleibt in seiner Chef-Funktion dem BvB bis 2025 erhalten! 

Bitte nicht falsch verstehen: von der politischen Einstellung her trennen mich wahrlich Welten von Hans-Joachim Watzke. Jedoch bewundere ich eines an ihm: Die bedingungslose Hingabe an sein Lebenswerk Borussia Dortmund!

Der Blick ins westliche Herne lehrt: nichts ist jetzt wichtiger als Vereinstreue, wirtschaftlicher Sachverstand und die Bereitschaft, Opfer für die Nummer Eins im Revier zu bringen. All das vereint sich in der Person Aki Watzke.

Aus Fan-Sicht heißt das dann: ökonomisch notwendige Entscheidungen zu akzeptieren, den langen Weg des Aufbaus einer Meistermannschaft mitzugehen und nicht zu verzagen, wenn es zwischendurch mal nicht so laufen sollte!

Vom neuen Coach Marco Rose erhoffe ich mir Power-Fußball und eine aggressiv-offensive Spielweise mit jungen, hungrigen Angreifern.

Auf denn, Borussia, kämpfen und siegen!

Freitag, 27. November 2020

Steffen Roski: Digitalisierung, Digitalität, Digitalismus. Digitale Bildung in der Corona-Krise - ein Trend-Report



Schule und Bildung sind derzeit in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Insgesamt stellt der Bund in den nächsten fünf Jahren 5 Mrd. Euro für die Digitalisierung von Schulen zur Verfügung. Die Länder tragen weitere 500 Millionen Euro bei. Der "Digitalpakt Schule" soll den Aufbau digitaler Lerninfrastrukturen fördern, Schulen sollen also mit leistungsfähigen Netzen und moderner Präsentationstechnik ausgestattet werden. Förderungsschwerpunkte sind dabei u.a. die Einrichtung von Lernplattformen, Cloud-Angeboten und WLAN-Netzen, die Anschaffung von interaktiven Tafeln und anderen digitalen Arbeitsgeräten, wie beispielsweise Laptops und Tablets, sowie die Kosten für die Administration und Wartung der Systeme. Für landesweite ebenso wie für länderübergreifende Vorhaben seien jeweils fünf Prozent der Fördermittel vorgesehen. Im Gegenzug haben die Länder sich verpflichtet, die Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern, sowie ihre Lehrpläne weiterzuentwickeln. Besonders im Vordergrund stehen soll dabei auch das Verstehen der digitalen Welt. Auf Grundlage der Lehrpläne soll dann die entsprechende digitale Infrastruktur eingerichtet werden.


Die Corona-Krise hat jenen Auftrieb gegeben, die sich bereits seit vielen Jahren für eine "Digitalisierung" der Bildung aussprechen und einsetzen. Dass es in den Gemeinschaften professioneller Pädagogen über dies Thema eine ebenso lange Debatte über die Vor- und Nachteile dieses Prozesses gibt, liegt auf der Hand. Wirklich wahrheitsfähig sind Ergebnisse pädagogischer Forschung eher selten. So ist das Gesamtbild entsprechend uneinheitlich. Es gibt Schulen sowie Fachbereiche von Hochschulen, die auch unabhängig von den Entwicklungen in der Corona-Krise bereits seit Langem praktizieren, was geschulte Lehrkräfte mit dem Begriff "Digitalität" bezeichnen würden: eine eingeübte Unterrichtspraxis nämlich, die im Grunde bereits vorweggenommen hat, was die Bundesregierung mit dem "Digitalpakt Schule" nun flächendeckend anzustoßen gedenkt. 


Ich möchte vorschlagen, das Begriffspaar "Digitalisierung" / "Digitalität" zu einer Trias zu erweitern und mich für eine Anknüpfung dieser beiden Begriffe an Entwicklungen in der Ökonomie stark zu machen. Mit "Digitalismus" möchte ich die strukturelle Kopplung technologischer Entwicklungen an Profitinteressen von Unternehmen, die in der Digitalwirtschaft operieren, bezeichnen. Über Digitalisierung und Digitalität zu sprechen, heißt dann immer auch: diese strukturelle Kopplung mitzudenken. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden aufzeigen, wie Digitalismus vorangetrieben wird, welche Organisationen und Netzwerke bestehen und die eine oder andere Überlegung darüber anfügen, welche gesellschaftlichen Folgen aus Digitalismusstrategien resultieren mögen.


US-Aktivitäten


Mit einem Volumen von fünf Billionen US-Dollar ist der Bildungssektor der zweitgrößte der Weltwirtschaft. Dies jedenfalls lehrt ein Blick auf die Seite der Bertelsmann Education Group (1). Mit dieser 2015 gegründeten Unternehmensgruppe nutzt Bertelsmann langjährige Branchenkenntnisse sowie stabile, weit gefächerte internationale Netzwerke und stellt Kapital dafür bereit, Bildungsunternehmen zu kreieren. Mit den vorwiegend im US-amerikanischen Markt aktiven Bildungsanbietern Udacity, Relias und HotChalk sind bislang derer drei Bestandteil der Education Group.


Das US-Engagement der Bertelsmann-Tochter ist vor dem Hintergrund des sehr ausgeprägt privatwirtschaftlichen Bildungssektors in den Vereinigten Staaten verständlich, wo sich, Kevin Carey (2) zufolge, eine schleichende Übernahme des Systems der höheren Bildung ereignet hat. Online erworbene Hochschulabschlüsse sind an vielen US-Hochschulen genauso teuer wie jene, die im Präsenzbetrieb erlangt werden können. So kosten beispielsweise die Online- als auch die Campus-Master-Abschlüsse im Bereich Soziale Arbeit an der University of Southern California jeweils exakt 107.484 Dollar. Carey beobachtet einen harten Konkurrenzkampf sogenannter Online Program Managers (OPMs), zu denen auch die Bertelsmann-Übernahme HotChalk zählt: "(P)ublishing giants such as Wiley, Pearson and Bertelsmann have snapped up OPMs for hundreds of millions of dollars. One analyst describes the current state of the industry as 'a scene out of "Mad Max," a chase through these dystopian hinterlands with obstacles in the way and people attacking each other.'" Der relativ offene, kaum regulierte US-Bildungsmarkt bietet OPMs lukrative Aussichten. Wer sich einmal durchgesetzt hat, steht vor profitablen Liaisons mit anerkannten, vertrauenswürdigen, reputierlichen akademischen Organisationen - und es wird dann zunehmend schwierig zu entscheiden, wo jeweils im Strange Loop akademisches Prestige und kapitalistischer Profit beginnt oder endet.


Der Bertelsmann-Konzern ist seit langem global aufgestellt: bereits zu Beginn der 2000er Jahre betrug der Auslandsanteil am Gesamtumsatz 69 Prozent (3). Die erst neu gegründete Education Group ist einer von heute acht Unternehmensbereichen. Für den Bildungsbereich bedeutsam sind darüber hinaus die RTL Group (Fernsehen und Radio), Gruner + Jahr (Zeitschriften) sowie Penguin Random House, der weltweit größte Publikumsverlag für Bücher. Bertelsmann kontrolliert damit mindestens ein Viertel der weltweiten Buchproduktion. Unter dem Vorsitz der Gruner + Jahr-CEO Julia Jäkel steuert die Bertelsmann Content Alliance seit Februar 2019 die Zusammenarbeit aller Inhaltegeschäfte von Bertelsmann. Somit ist z.B. für die Education Group der Zugriff auf alle bildungsbezogenen Contents aus der riesigen Schatzkammer des Medienriesens aus dem ost-westfälischen Gütersloh sichergestellt. 


Weltweit differieren Bildungssysteme enorm, dasjenige der USA unterscheidet sich etwa vom deutschen mit seinem Staatsbezug und der sprichwörtlichen Bildungshoheit der Länder in vielerlei Hinsichten, die "dystopian hinterlands" durch die die Bertelsmann Education Group in den Vereinigten Staaten Jagd auf Konkurrenten macht, sind für die gegenwärtige Bildungslandschaft der Bundesrepublik nicht bestimmend und typisch. So beklagt etwa der Leiter für Bildungsforschung am mmb-Institut, einer "Denkwerkstatt und Impulsgeber für die Innovation von Bildung und Lernen", Lutz Goertz (4), dass von einem Aufblühen der E-Learning-Branche in der Corona-Krise, auch angesichts des mit dem "Digitalpakt Schule" angestoßenen "Digital Turns" keine Rede sein könne: "Vielmehr spaltet die Krise die digitale Bildungswirtschaft in nahezu gleich viele Gewinner und Verlierer – wobei für die meisten derzeit noch keine nennenswerte Veränderung wahrnehmbar ist." 


Digitale Bildung - ein "Muss"!


Der Digitalisierungsprozess dürfte schwerlich in Gang kommen, wenn den meisten Kindern die notwendige Basisausstattung fehlt. In einem kürzlich gesendeten Interview mit dem Deutschlandfunk sieht der Direktor für Bildung bei der OECD, Andreas Schleicher (5), Deutschland schlecht aufgestellt: "Die Digitalisierung bietet uns ja Möglichkeiten, wirklich auch ganz anders zu lernen. Lernen ist kein Ort, Lernen ist eine Aktivität und die Digitalisierung kann das in vielerlei Hinsicht unterstützen, und ich denke, da ist noch sehr viel zu tun. Bei der technischen Ausstattung hat der Digitalpakt jetzt einen ersten Anfang gemacht, aber da braucht man wirklich gute Plattformen, da braucht man Unterrichtsmaterialien, die auch wirklich in die Lehrpläne voll integriert sind." Für Bundesbildungsministerin Anja Karliczek stellt sich kein Abwägungsproblem, ganz im Gegenteil: "Denn digitale Bildung sei 'kein Nice-to-have, sondern ein Must-have'." (6) Margaritis Schinas (EU-Kommissionsvize), Mariya Gabriel (Kommissarin für Innovation und Jugend) und die für Digitales zuständige EU-Kommissarin Margrethe Vestager lassen sich ganz ähnlich vernehmen und betonen, die Corona-Krise hätte den Fernunterricht über das Internet ins Zentrum der Bildungspraxis gerückt, es gebe daher den „dringenden Bedarf“, die digitale Bildung zu verbessern – auch in „strategischer und langfristiger“ Hinsicht. (7) Zivilgesellschaftliche Akteure haben den Ball längst aufgenommen. So fordert die Gründerin des Vereins Digitale Bildung für alle e.V., Verena Pausder (8), aktuell in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Positivlisten für jene Lernplattformen, die an den Schulen im Fern- oder Hybridunterricht genutzt werden dürfen: "Jetzt zu sagen, was braucht jede Schule, und sie kriegt ein Budget, eine Art Corona-Budget, um jetzt mobile Hotspots, Geräte, Inhalte, Plattformen bezahlen zu können, die sie jetzt besonders in diesen nächsten Monaten braucht, das ist, glaube ich, der Weg nach vorne."


Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM-Bildungsmonitor 2020) hat das Institut der deutschen Wirtschaft Köln im August 2020 eine Studie mit dem Titel "Schulische Bildung in Zeiten der Corona-Krise" (9) verfasst. Für die Digitalisierung der schulischen Bildung wird das Ingangsetzen eines "Change-Prozesses" gefordert: Erstens sei die Dringlichkeit des Wandels anzuerkennen, was konkret heißen würde, Bund, Länder und Kommunen davon zu überzeugen, künftig nicht einfach zur Präsenzlehre zurückzukehren, sondern über den "Digitalpakt Schule" hinaus die Digitalisierung der Bildung voranzutreiben. Dies bedeute im Weiteren, zweitens, Koalitionen zu schmieden sowie Visionen zu entwickeln und zu kommunizieren: "Wichtig ist es dabei, die Erwartungen und Zielsetzungen auch während der Pandemie­-Zeit durch Schulbehörden und Ministerien transparent und unterstützend zu kommunizieren." In einem dritten Schritt gelte es Hindernisse aus dem Weg zu räumen und retardierende Kräfte zu verringern. So wird in der Studie z.B. vorgeschlagen, die Lernmittelfreiheit auf digitale Endgeräte auszuweiten. Viertens sollten kurzfristige Erfolge im Change-Prozess durch Best-Practice-Beispiele sichtbar gemacht werden: "Beispiele finden sich bereits heute durch die Auszeichnungen von MINT­Schulen, MINT­EC­Schulen, smart schools oder digitale Schulen durch verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure." In einem fünften Schritt seien weitere Veränderungen einzuleiten. Dies wird von den Autoren der Studie in einer klaren digitalwirtschaftlichen, eben digitalistischen Diktion dargestellt: "Wichtig ist es darüber hinaus, die Potenziale der Digitalisierung in einem nächsten Schritt zu nutzen. So ergeben sich bei einer mit hohen Fixkosten verbundenen Entwicklung von digitalen interaktiven Lerntools oder Lernplattformen gewaltige Potenziale der Skalierung, da die Grenzkosten der Einbeziehung eines weiteren Nutzers nahe Null sind." Schließlich gelte es, sechstens, die Kultur dauerhaft im Sinne gelebter und geübter Digitalität zu ändern. 


Die Bertelsmann Stiftung


"Der politische Wille ist erfreulich ... Die Umsetzung ist allerdings mangelhaft, denn Länderproporz schlägt einmal mehr Bedürftigkeit", rügt Jörg Dräger (10) in einem Gastbeitrag zum zwd-Politikmagazin, wiedergegeben auf der Projektseite "Digitalisierung der Bildung" der Bertelsmann Stiftung. Dräger, einst Senator für Wissenschaft und Forschung sowie zeitweise auch Senator für Gesundheit und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg, ist Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung sowie Geschäftsführer des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), an dem die Bertelsmann Stiftung laut dem im Bundesanzeiger geführten Unternehmensregister 90 Prozent der Anteile hält. 


Laut Wikipedia (11) lässt sich summarisch über die Bertelsmann Stiftung festhalten: Die Bertelsmann Stiftung ist eine selbständige Stiftung des privaten Rechts mit Sitz in Gütersloh, hält seit 1993 die Mehrheit der Anteile des Bertelsmannkonzerns, untersteht der Aufsicht durch die Bezirksregierung Detmold und verfolgt ausschließlich und unmittelbar steuerbegünstigte Zwecke im Sinne der Abgabenordnung. Derzeit ist der Vorstand der Bertelsmann Stiftung mit Ralph Heck (Vorsitzender), Liz Mohn (stellvertretende Vorsitzende), Brigitte Mohn und Jörg Dräger besetzt. 


Seit ihrer Gründung 1977 hat die Bertelsmann Stiftung mehr als 1,5 Milliarden Euro für gemeinnützige Arbeit zur Verfügung gestellt. Im Geschäftsjahr 2019 beliefen sich die Ausgaben auf rund 90,5 Millionen Euro. Die Bertelsmann Stiftung arbeitet rein operativ und vergibt keine Stipendien. Sie investiert ihre Mittel in Projekte, die sie selbst initiiert, konzipiert und umsetzt. Beispielsweise erstellt die Bertelsmann Stiftung Studien und Rankings, organisiert Modellprojekte, vermittelt Wissen und Kompetenzen, veranstaltet Kongresse und vergibt Preise. Wichtige Arbeitsfelder sind die Bereiche Bildung, Demokratie, Europa, Gesundheit, Werte und Wirtschaft, sowie Megatrends wie beispielsweise der demografische Wandel. Aufmerksamkeit erregte die Gründung des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE GmbH) durch die Bertelsmann Stiftung und die Stiftung zur Förderung der Hochschulrektorenkonferenz im Jahr 1994. Die Einrichtung versteht sich als „Reformwerkstatt“ für das deutsche Hochschulwesen. Die Bertelsmann Stiftung ist parteipolitisch neutral. Sie arbeitet regional, national und international. Auch digitales Lernen ist bis heute ein wichtiges Thema, da es als Lösung für verschiedene strukturelle Probleme im Bildungsbereich angesehen wird. Einen Überblick bietet ein gemeinsam mit dem CHE betriebenes Blog "Digitalisierung der Bildung", auf dem die Bertelsmann Stiftung die Aktivitäten von der Schule bis hin zum Lebenslangen Lernen bündelt. (12)


Im Jahr 2017, längst vor der Corona-Krise, beklagte der Verband der Bildungsmedien (VBM) (13), an dem alle in Deutschland einschlägigen Schulbuchverlage beteiligt sind, den Mangel einer konkreten, bedarfsgerechten Umsetzung der digitalen Bildung und bezog sich dabei auf dem im selben Jahr von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichten "Forderungskatalog für ein digitales Deutschland". (14) Diese Forderungen richten sich nach außen - an eine interessierte Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft, Politik und Ministerialbürokratie. Zugleich fügen sie sich ein in die strategischen Planungen des Bertelsmann-Konzerns sowie in die Interessenkonstellationen der Digitalwirtschaft insgesamt. So verkündete 2015 Bertelsmann-Vorstand Thomas Rabe gegenüber der Wochenzeitung Freitag: "Wir wollen den Bildungsbereich zu einer tragenden Säule des 'neuen Bertelsmann' entwickeln." (15) Seitdem hat die Bertelsmann Stiftung ihre konkreten Forderungen vermittelt über weitere Projekte, vielerlei Projektpartnerschaften sowie Publikationen an Politik und Öffentlichkeit adressiert. 


Der gemeinsam mit dem Projektpartner mmb-Institut - Gesellschaft für Medien- und Kompetenzforschung entwickelte "Monitor Digitale Bildung" (16) soll der Bertelsmann Stiftung die "empirische Datenbasis über alle Bereiche des digitalen Lernens hinweg" liefern, von der Primarstufe, über die berufliche Bildung bis hin zu den Hochschulen. (17) Expertisen des unabhängigen und privaten mmb-Instituts werden beauftragt von öffentlichen Institutionen wie Ministerien, die NRW-Staatskanzlei, Kommunen oder Bundesinstitute, Verbände, Vereine und Stiftungen, darunter auch die Bertelsmann Stiftung und das CHE, Bildungseinrichtungen und Akademien sowie privatwirtschaftliche Unternehmen. Diese Projektpartnerschaft hält bereits über einen längeren Zeitraum: bereits 2014 beauftragte die Bertelsmann Stiftung mmb mit der Studie "Digitales Lernen adaptiv. Technische und didaktische Potenziale für die Weiterbildung der Zukunft". Als Mitherausgeberin tritt die Bertelsmann Stiftung zudem bei den jährlichen Lagebildern zur digitalen Gesellschaft, dem "Digital-Index" der Initiative D21, in Erscheinung, wo denn auch im aktuellen Bericht 2020 die versäumte Digitalisierung des Schulbetriebs beklagt wird. (18)


Leitkonferenz ist das "Forum Bildung Digitalisierung" mit seinen Jahrestreffen. Dabei handelt es sich um eine Initiative der Bertelsmann Stiftung, an der zudem mit der Deutsche Telekom Stiftung, Dieter Schwarz Stiftung, Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, Robert Bosch Stiftung, Siemens Stiftung, Stiftung Mercator und Joachim Herz Stiftung sieben weitere philanthropische Akteure beteiligt sind. Das Forum tritt zugleich als eingetragener Verein mit ca. 40 Mitgliedsschulen bundesweit in Erscheinung. Der auf den Seiten des Forums vorzufindende Appell lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: "Lasst uns Lehrkräfte durch eigene Kooperation, Risikobereitschaft, offene Fehlerkultur und Eigenverantwortung ein Vorbild sein in dieser Zeit, probieren wir Neues aus und vertrauen wir unseren Schülerinnen und Schülern! Dann sehen wir am Ende möglicherweise auf diese Zeit und die flächendeckenden Schulschließungen als eine Zeit des digitalen Wandels und der pragmatischen Innovation zurück." (19)


Während über Forderungskataloge und Projektpartnerschaften mit Bildungsinstituten politisch-administrative Entscheider beeinflusst werden sollen, geht die Bertelsmann Stiftung z.B. mit dem "Forum Bildung Digitalisierung" den Weg gleichsam "von unten" an und versucht, zivilgesellschaftliche Akteure, Einzelschulen sowie Lehrerinnen und Lehrer einzubinden. Dies erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Corona-Krise viel versprechend, sind eben doch individuelle Bildungseinrichtungen von möglichen Schließungen konkret betroffen, muss doch an jeder einzelnen Schule ausgelotet werden, inwieweit Fern- und Hybridunterricht technisch und organisatorisch ermöglicht werden können. Auch nach den Erfahrungen des ersten, "harten" Lockdowns dürfte auch jetzt, im November 2020 gelten: Probleme und Unsicherheiten mit dem Thema Digitalisierung bestehen auch gegenwärtig an den Schulen weiter!


Die Bildung zivilgesellschaftlicher Netzwerke erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der föderalen Struktur des bundesdeutschen Bildungssektors ein nachhaltiger strategischer Ansatz zu sein, denn es bedarf eines langen Atems. Die Bertelsmann Stiftung ist sich vollkommen darüber im Klaren, dass ein Top-Down-Ansatz allein nicht ausreichen wird, in jedem Bundesland aufs Neue Ministerien zu überzeugen und Ansätze wie eben jene zur Digitalisierung der Bildung jeweils immer wieder neu zu verhandeln. Mit dem aus den USA übernommenen Bildungsprogramm Teach First hat sich die Bertelsmann Stiftung "auf den Weg gemacht und erobert Bundesland für Bundesland". (20) Der Ansatz ist so einfach wie pragmatisch: "Das Programm schickt gut ausgebildete Uni-Absolventen an sogenannte Brennpunktschulen. Dort unterstützen sie die Lehrer im Unterricht, fördern individuell am Nachmittag, holen spannende Projekte an die Schulen." Wer sich einmal für Teach First Deutschland eingesetzt hat, erhält die Möglichkeit, sich in einem "Alumni-Netzwerk" für bessere Bildungschancen stark zu machen. Am Rande sei erwähnt, dass mit Elke Büdenbender die Frau des amtierenden Bundespräsidenten als "Schirmherrin" gewonnen werden konnte. Das deutsche Programm ist gleichzeitig Bestandteil des globalen Netzwerks "Teach For All" mit weltweit über 50 Länderorganisationen.


Digitalismus


Welche gesellschaftlichen Folgen lassen sich aus dieser Aufstellung ableiten? Zunächst einmal ist es wichtig festzuhalten, dass nicht allein der Bertelsmann Konzern und die Bertelsmann Stiftung bestrebt sind, Digitalisierungsprozesse im Bildungsbereich voranzutreiben. Als ein weiteres Beispiel wären etwa die Deutsche Telekom oder Vodafone anzufügen. Die Deutsche Telekom Stiftung und die Vodafone Stiftung beteiligen sich wie andere Konzerne und Plattformen der Digitalwirtschaft auch, Google und Facebook etwa, an diversen Foren, Konferenzen und Initiativen. Ich habe den Fokus deshalb auf Bertelsmann und die Bertelsmann Stiftung gerichtet, weil das Gütersloher Unternehmen seit langem bereits mit besonderer Ausdauer, Weitsicht und durch erheblichen Kapitaleinsatz sowohl gemeinnützige als auch kommerzielle Interessen verfolgt. Konzern (etwa über die Zeitschriftensparte Gruner + Jahr, die Fernsehkanäle der RTL Group wie RTL, Vox und n-tv) und Stiftung (Einbindung in vielfältige Netzwerke politisch-administrativer Entscheider und der Zivilgesellschaft, Publikation von Expertisen und wissenschaftlichen Studien und Empfehlungen) verfügen über ein beachtliches Potential der Beeinflussung der öffentlichen Meinung, was in dieser Konstellation in der Bundesrepublik seines Gleichen sucht. Es ist der sprichwörtliche lange Atem des Medienriesen, sich seit jeher in zuweilen mühevoller und zäher Detailarbeit dem Gebiet der digitalen Bildung gewidmet zu haben, der jetzt angesichts der aus der Corona-Krise abgeleiteten Notwendigkeiten heraus beginnt, sich für den Konzern sowie die Digitalwirtschaft insgesamt bezahlt zu machen. Eines ist gewiss nicht zu erwarten: ein Lockerlassen dieser Bemühungen nämlich!


Wohin die Entwicklung steuern könnte, ist zu erahnen, wenn man ein Interview liest, das die F.A.Z. mit dem Lehrer Gottfried Böhme (21) geführt hat. Böhme zitiert dort eine Forderung des Bertelsmann Stiftungsvorstands Jörg Dräger. Dieser propagiere in seinem Buch "Die digitale Bildungsrevolution" eine "School of one", "in der Lernprogramme auf den einzelnen Schüler zugeschnitten werden, was den Klassenverband zerstört." Das Poröswerden der Institution Schulklasse ist nun tatsächlich vor dem Hintergrund der Corona-Krise ein beobachtbares Phänomen. Julia Reda (22) berichtet von Überlegungen der Deutschen Telekom, einen speziellen niedrigen, von den Schulträgern zu übernehmenden Bildungstarif vorzusehen, um Schülern aus finanzarmen Haushalten die Teilnahme am Fernunterricht zu ermöglichen. Dabei soll der Zugang auf eine Handvoll vom Schulträger vorkonfigurierter Lernangebote limitiert sein. Reda befürchtet die Heraufkunft eines "Zwei-Klassen-Internets", sozusagen eines optional begrenzten Bildungs-Intranets für die weniger Begüterten. Ähnlich wie dies für den Nachhilfeunterricht in der Vergangenheit galt könnte sich künftig ein neuer Markt für entsprechend exklusive Online-Tools und -Plattformen entwickeln, der letztlich das Habenwollen von mehr und besserer Digitalbildung über das Medium Geld regelt. Sowohl Lehrer Böhme als auch Netzaktivistin Reda haben zudem erhebliche Datenschutzbedenken was Schulclouds (im F.A.Z.-Interview wird jene der Hasso-Plattner-Stiftung erwähnt) und Sonder-Bildungstarife angeht. So fasst Reda für das geplante Telekom-Angebot ihre Bedenken so zusammen: "Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist der Datenschutz besonders wichtig, es ist also unvorstellbar, dass die Telekom mittels Deep Packet Inspection deren Surfverhalten überwachen können soll, nur um sicherzustellen, dass sie ausschließlich Bildungsangebote aufsuchen. Auch wenn ein Schulträger die Telekom anweist, welche Inhalte gesperrt und welche durchgeleitet werden sollen, wäre eine solche Überwachung des Datenverkehrs durch die Telekom ohne explizite Gesetzesgrundlage europarechtswidrig."


Wie die digitale Bildungslandschaft in zehn Jahren aussehen wird, lässt sich natürlich nicht sagen. Erste Konturen des Digitalismus jedenfalls sind bereits heute erkennbar!


(P.S. Mit dem Kauf der Verlagsgruppe Simon&Schuster verkauft Bertelsmann jetzt in den USA jedes dritte Buch!) (23)




  1. https://www.bertelsmann.de/bereiche/bertelsmann-education-group/#st-1, entnommen am: 16.11.2020, 13:18 Uhr MEZ

  2. https://www.huffpost.com/highline/article/capitalist-takeover-college/?guccounter=1&guce_referrer=aHR0cHM6Ly93d3cuZ29vZ2xlLmNvbS8&guce_referrer_sig=AQAAAKQRjN1dpVPoOKZuwxJx8cXASV2tnT-52knPa1MeaRQjtliZt0uF6m043KBmFTIkkmgbldqOZOl49VA7fOrgpIhiBekO5HyEhC1uHLiNvlLdojzYIzgmUS8OXKLh3pVauXOqXIEy6qJqLXqnvOV2KJDEPuItO9dsF-qpYtI2kQrg, entnommen am: 16.11.2020, 13:51 MEZ

  3. Insa Sjurts, "Think global, act local - Internationalisierungsstrategien deutscher Medienkonzerne", in: APuZ B 12-13/2004, S. 22-29 (S. 22)

  4. https://www.wb-web.de/aktuelles/die-digitale-bildungswirtschaft-in-zeiten-von-corona-profiteur-oder-opfer.html, entnommen am: 17.11.2020, 14:06 MEZ

  5. https://www.deutschlandfunk.de/schule-in-coronazeiten-fuer-den-hybriden-unterricht-ist.694.de.html?dram:article_id=487458, entnommen am: 17.11.2020, 18:01 MEZ10:29 MEZ

  6. https://www.bmbf.de/de/karliczek-mahnt-laender-zur-umsetzung-der-corona-schulkonzepte-12308.html, entnommen am: 18.11.2020, 10:39 MEZ

  7. https://www.stol.it/artikel/kultur/eu-kommission-will-digitale-bildung-nach-corona-krise-anschieben, entnommen am: 18.11.2020, 10:44 MEZ

  8. https://www.deutschlandfunk.de/digitaler-unterricht-in-der-coronakrise-bildungsexpertin.694.de.html?dram:article_id=487699, entnommen am: 18.11.2020, 12:06 MEZ

  9. Christina Anger & Axel Plünnecke: "INSM-Bildungsmonitor 2020. Schulische Bildung in Zeiten der Corona-Krise (Studie des Instituts für deutsche Wirtschaft Köln im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft)", PDF (Köln, 14.08.2020), S. 118-120

  10. https://www.digitalisierung-bildung.de/2020/10/26/chancengerechtigkeit-statt-foederaler-verteilungskaempfe/, entnommen am: 17.11.2020, 15:11 MEZ

  11. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Bertelsmann_Stiftung, entnommen am: 17.11.2020, 15:37 MEZ

  12. https://www.digitalisierung-bildung.de/, entnommen am: 18.11.2020, 13:33 MEZ

  13. https://bildungsklick.de/schule/detail/professionelle-bildungsmedien-fuer-die-digitale-welt, entnommen am: 18.11.2020, 11:09 MEZ

  14. Bertelsmann Stiftung (Kirstin Witte & Carsten Große Starmann): "Smart Country - Vernetzt. Intelligent. Digital. Forderungskatalog für ein digitales Deutschland", PDF (Gütersloh, 2017)

  15. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/vorsicht-stiftung, entnommen am: 18.11.2020, 11:39 MEZ

  16. https://www.mmb-institut.de/aktuelles/neuer-monitor-zur-digitalisierung-in-der-weiterbildung/, entnommen am: 18.11.2020, 13:03 MEZ

  17. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/teilhabe-in-einer-digitalisierten-welt/projektthemen/projektthemen-monitor/, entnommen am: 18.11.2020, 12:25 MEZ

  18. https://initiatived21.de/bildung-in-zeiten-von-corona-zwischen-videokonferenz-und-brief/, entnommen am: 18.11.2020, 13:19 MEZ

  19. https://www.forumbd.de/blog/die-corona-krise-eine-chance-fuer-zeitgemaesses-lernen/, entnommen am: 18.11.2020, 13:05 MEZ

  20. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/mediathek/medien/mid/teachfirst-ein-amerikanisches-bildungsprogramm-fuer-deutschland, entnommen am: 18.11.2020, 14:15 MEZ

  21. https://m.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/corona-und-bildungsoffensive-diese-digitalisierung-macht-den-unterricht-nicht-besser-16924879.html, entnommen am: 18.11.2020, 15:18 MEZ

  22. https://www.heise.de/newsticker/meldung/Edit-Policy-Mit-dem-Bildungstarif-in-die-digitale-Zwei-Klassen-Gesellschaft-4882169.html?seite=all, entnommen am: 18.11.2020, 15:31 MEZ

  23. https://amp-n--tv-de.cdn.ampproject.org/v/s/amp.n-tv.de/wirtschaft/Bertelsmann-kauft-US-Verlagsgruppe-article22192993.html?amp_js_v=a6&amp_gsa=1&usqp=mq331AQFKAGwASA%3D#aoh=16063203882046&csi=1&referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com&amp_tf=Von%20%251%24s&ampshare=https%3A%2F%2Fwww.n-tv.de%2Fwirtschaft%2FBertelsmann-kauft-US-Verlagsgruppe-article22192993.html, entnommen am: 25.11.2020, 18:08 MEZ





Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.