"Ohne (Max; SR) Weber zu nahe treten zu wollen: Betrug und Korruption haben den Kapitalismus seit je begleitet. Es gibt allerdings gute Gründe anzunehmen, dass sie mit dem Aufstieg des Finanzsektors zur Vorherrschaft über die Ökonomie so allgegenwärtig geworden sind, dass Webers ethische Rechtfertigung des Kapitalismus sich heute anhört, als sei sie von einer gänzlich anderen Welt. Das Finanzwesen ist eine 'Industrie', in der es schwerfällt, Innovationen von der Beugung oder dem Bruch von Regeln zu unterscheiden; in der sich mit halblegalen oder illegalen Aktivitäten besonders hohe Gewinne erzielen lassen; wo das Gefälle zwischen Unternehmen und Regulierungsbehörden hinsichtlich Expertenwissen und Bezahlung extrem ist; wo die Drehtüren zwischen beiden unbegrenzte Möglichkeiten für subtile und weniger subtile Korruption eröffnen; wo die größten Firmen nicht nur too big to fail sind, sondern auch too big to jail - zu groß, als dass man sie angesichts ihrer Bedeutung für die Wirtschaftspolitik und das Steueraufkommen des jeweiligen Landes zur Rechenschaft ziehen könnte; und wo die Grenzen zwischen Privatunternehmen und Staat mehr als irgendwo sonst verschwimmen, wie der Bailout von 2008 oder auch die unglaubliche Zahl ehemaliger und künftiger Beschäftigter von Finanzfirmen in der Regierung der Vereinigten Staaten illustrieren. Nach den Affären um Enron und World-Com hieß es, Korruption und Betrug hätten in der US-Wirtschaft ein Allzeithoch erreicht. Doch was dann nach 2008 ans Licht kam, übertraf alles bislang Dagewesene: die Bezahlung von Rating-Agenturen durch die Produzenten toxischer Papiere zwecks Erlangung von Spitzenbewertungen; Offshore-Schattenbanking, Geldwäsche und Beihilfe zur Steuerflucht großen Stils als normales Geschäftsmodell der größten Banken mit den besten Adressen; der Verkauf von Wertpapieren an arglose Kunden, die so konstruiert waren, dass andere Kunden gegen sie spekulieren konnten; das betrügerische Fixing von Zinssätzen und Goldpreis durch die führenden Banken der Welt und so weiter und so weiter. In den vergangenen Jahren mussten mehrere Großbanken für solche Aktivitäten Strafzahlungen in Milliarden-Dollar-Höhe leisten, und weitere Fälle dieser Art scheinen bevorzustehen. Was jedoch auf den ersten Blick wie schmerzhafte Sanktionen aussehen mag, erscheint im Vergleich zu den Bilanzen eher lächerlich - ganz abgesehen von der Tatsache, dass es sich in all diesen Fällen um außergerichtliche Regelungen handelte, weil die Regierungen strafrechtliche Regelungen nicht unternehmen wollten oder zu unternehmen wagten."
Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2015, S. 109-120, Zitat: S. 118.
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