Wissen schafft Gesellschaft - Weblog von Steffen Roski
Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.
Donnerstag, 16. November 2023
Steffen Roski: Der philanthropische Komplex: Weltgesellschaft, transformative Agenden, Zivilsphäre und Stiftungsorganisationen
Montag, 4. September 2023
Steffen Roski: Die Inszenierung des Social-Media-Syndroms "Drachenlord"
Wenn Sozialwissenschaftler über Medien forschen, beziehen sie sich in der Regel auf die geheiligte Sphäre des seriösen Journalismus mit seinen paradigmatischen Leitsternen wie SZ, F.A.Z., DIE ZEIT, DER SPIEGEL usw. Der Diskurs ist eingeübt, gepflegt, es wird feinsten Nuancen größte Beachtung geschenkt. Wir dürfen beobachten, wie die Forschung gerade die Facetten der "Causa Aiwanger" im Spiegelkabinett der Medienkritik detailreich analysiert.
Weit weniger Beachtung wird dagegen jenen trüben Social-Media-Gewässern gewidmet, in denen sich die auf ihren Gaming-Stühlen und abgewetzten Sofas lümmelnden mehr oder weniger professionellen Online-Bettler tummeln, die ihrem Publikum zu jeder Tages- und Nachtzeit ein wenig Kleingeld aus dem Kreuz zu leiern bestrebt sind.
Hierarchisierte man die BRD-Medien pyramidal, so fände man an ihrer Spitze die sog. "Leitmedien" (FAZ, Spiegel & Co.) und ganz unten auf dem breiten Grund der Pyramide eben jene Bettel-Kanäle, von denen TikTok eine unrühmliche Prominenz erlangt hat.
Es gibt kaum Abstoßenderes als erwachsenen Menschen dabei zuzusehen, wie sie ihrer juvenilen Zuseherschaft etwas von ihrem Taschengeld abzupressen suchen, indem sie diese dazu auffordern zu "tippen, tippen, tippen, liken, liken, liken".
Zum Kreis jener Berufsbettler zählt auch der sog. "Drachenlord", bürgerlich Rainer Winkler. Gerichtsfest als "vermindert intelligent" eingestuft, stammelt sich dieser sprachlich unbeholfen und limitiert allabendlich mit breitem fränkischen Akzent durch zahlreiche Streams und "Live-Matches", um von seiner TikTok-Anhängerschaft, den sog. "Drachis", seinen Lebensunterhalt zusammenzuschnorren.
Im Jahre 2021 wurde R. Winkler wegen gefährlicher Körperverletzung und anderer Straftaten rechtskräftig verurteilt. Interessanterweise erregte der zu seiner Verurteilung führende Gerichtsprozess die Aufmerksamkeit ausgerechnet eines führenden BRD-Leitmediums.
In Gestalt des Autoren und Internet-Strategieberaters Sascha Lobo widmete DER SPIEGEL im Jahre 2021 in seiner Online-Ausgabe einen Meinungsbeitrag zum sog. "Drachenlord". Lobo, ein Bourgeois mit der Attitüde eines Cyberpunks, führt die Spiegel-Leserschaft als Erklärbär durch die Weiten des Internets und der virtuellen Welten. Dass nun ausgerechnet R. Winkler Lobos Aufmerksamkeit gefunden hat, überrascht dann aber doch.
Seine Einlassungen zum sog. "Drachenlord" verdienen m.E. unbedingt der näheren Betrachtung, weil sich S. Lobo als ein äußerst manipulativer und geschickter Falschspieler erweist, der möglicherweise weit mehr im Schilde führt als es bei oberflächlicher Betrachtungsweise den Anschein hat.
Aber der Reihe nach. Ich werde zunächst einmal die Argumentationslinie von S. Lobos Spiegel-Online-Veröffentlichung nachzeichnen:
Aufgemacht ist sein Meinungsbeitrag damit, dass es sich im Fall des sog. "Drachenlord" um ein in der BRD von niemandem aufgehaltenes "Martyrium" handele.
S. Lobo wirft der Justiz vor, sich in Gestalt einer Staatsanwältin und einer Richterin "faktisch an die Spitze eines hochorganisierten Internetmobs gesetzt" zu haben. Diese Meute sei hinter jemanden her, der eigentlich nichts Ungewöhnliches mache und sein Geld damit verdiene, "einige Facetten seines Lebens ins Netz zu stellen". Und weiter heißt es: "Weil er ist, wie er ist, und wagt, sich in der Netzöffentlichkeit zu zeigen, wird er seit 2013 ausnahmslos jeden Tag von einem Zehntausende Menschen starken Hassmob gequält." Bei R. Winkler handele es sich um ein einzelnes Opfer, das immer wieder von tausenden Tätern verfolgt werde. Dabei schaue ihm ungeheuerlicher Weise ein Millionenpublikum belustigt zu. Es handele sich bei all dem um "die extremste Form des Cybermobbing in Deutschland". Der Staat habe es nicht nur versäumt, R. Winkler zu schützen, nein, er, so S. Lobo, mobbe selbst kräftig mit. Die Diagnose des Spiegel-Internetsachverständigen ist denn an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen, wenn er eine "katastrophale Versagensgeschichte der digitalen Gesellschaft, verantwortet von Medien, Politik, Exekutive, Jurisdiktion und dem Publikum" diagnostiziert.
Die Liste der teilweise strafwürdigen Angriffe auf den sog. "Drachenlord" ist lang und S. Lobo führt folgende Punkte auf: Beleidigungen, Bedrohungen, Herabwürdigungen, Attacken auf das Haus von R. Winkler, Fake-Bestellungen, tätliche Angriffe, Beleidigungen und Schmähungen von Familienangehörigen, eine Grabschändung, gezielte Provokationen verschiedenster Art, die ihn zu unbedachten Reaktionen veranlassen sollen, die dann wiederum von seinen Widersachern ins Netz gestellt würden. R. Winkler werde ohne jeden Ausweg für ihn tagein, tagaus gequält.
Relativ ausführlich schildert S. Lobo eine Begebenheit, die über die sozialen Netzwerke hinaus Aufmerksamkeit gefunden hat. R. Winkler hatte sich online in eine junge Frau verliebt, die dessen Avancen eine Zeitlang scheinbar erwiderte. Als der sog. "Drachenlord" dieser schließlich coram publico einen Heiratsantrag unterbreitete, lehnte sie diesen nicht nur ab, sondern bezeichnete Winkler - zum Gefallen des "Mobs", vom sog. "Drachenlord" auch "Hater" genannt - zudem als dickleibigen Idioten.
Resümierend kritisiert S. Lobo "die Medien" dafür, R. Winkler unterstellt zu haben, all das, was diesem durch "die Hater", eine Gruppe "faschistoide(r) Menschenfeinde", widerfahren sei, selbst so gewollt zu haben. Tatsächlich, so Lobo, habe dieser nie eine andere Wahl gehabt, als sich unter Anwendung von Gewalt zur Wehr zu setzen, denn das Ziel des Hater-Spiels habe darin bestanden, ihn "in den Selbstmord zu treiben".
S. Lobo macht sich zum uneingeschränkten Fürsprecher R. Winklers und konstatiert ein katastrophales Versagen von Justiz, Medien und Gesellschaft, denen er vorwirft, "eine der schlimmsten Opferverhöhnungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" begangen zu haben: ein unwissender und zynischer Staat als Mit-Mobber sozusagen, der dem Hassmob nichts entgegenzusetzen habe.
Eine Frage drängt sich abschließend auf: Gäbe es für R. Winkler nicht einfach die Möglichkeit, sich aus den Social Media zurückzuziehen und die Kunstfigur "Drachenlord" ad acta zu legen? Internet-Guru S. Lobo erteilt diesen naheliegenden Rat nun gerade nicht. Er schreibt: "Winkler verdient sein Geld mit seinen Netzauftritten, er kann nichts anderes. Das aufzugeben, würde ihn ins Nichts stürzen." Das wäre ungefähr so, fährt Lobo fort, "als würde man einem Opfer häufiger Raubüberfälle vorschlagen, einfach nicht mehr zur Arbeit zu gehen, damit die Raubüberfälle aufhören."
Wenn ein meinungsstarkes Medium wie DER SPIEGEL das soziale Problem "Mobbing" thematisiert und in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit rückt, ist dies nur allzu berechtigt und notwendig. Dass S. Lobo allerdings ausgerechnet den sog. "Drachenlord" als paradigmatisches Fallbeispiel heranführt, wird der Bedeutung dieses sozialen Problems in keiner Weise gerecht.
R. Winkler hat sich dazu entschlossen, sich in die Arena der Social Media zu begeben. Durch diese Arena führen keine glatt gepflasterten Boulevards, auf denen Stars und Sternchen flanieren. Die Pflaster der Seitenstraßen sozialer Medien sind rau, der Umgangston ist eher ungehobelt, man sagt jemandem etwas nicht ins Gesicht, sondern direkt "in die Fresse".
Und genau in dieser Arena trachtet R. Winkler sich zu behaupten. Es wird ausgeteilt und eingesteckt, provoziert und reagiert. Dass ausgerechnet der Internetversteher S. Lobo dieses Geschäftsmodell des wechselseitigen Anstachelns, im Falle R. Winklers und seinen "Hatern" auch "Drachen-Game" genannt, mit und durch "Reactions" mit Mobbing verwechselt, verwundert mich sehr.
Um es klar zu sagen: Der sog. "Drachenlord" ist ganz sicher kein Mobbing-Opfer. Vielmehr geriert sich diese Social-Media-Figur als ein solches, um möglichst viel Profit aus der eingenommen Opferrolle zu schlagen. Extreme Formen des Cybermobbing finden in der BRD wahrscheinlich tausendfach tagtäglich gerade nicht vor einem Millionenpublikum statt. Sie geschehen immer wieder unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle. Ausgerechnet R. Winkler, der monatlich mehrere Tausend Euro von seinen Followern dafür erhält, sein "Martyrium" zu inszenieren, gleichsam zum Anwalt von jungen Menschen zu machen, die tatsächlich Mobbingangriffen ausgesetzt sind, verdreht die Tatsachen eklatant. S. Lobo wird dem Thema nicht nur nicht gerecht, nein, er verhöhnt die tatsächlich Betroffenen obendrein noch.
Am Rande sei angemerkt, dass die von S. Lobo als Beispiel für des "Drachenlords" Martyrium herangeführte Episode des gescheiterten Heiratsantrags sich auch ganz anders lesen lässt. Wie viele junge Frauen müssen sich immer wieder in Internet-Chats widerlichen Nachstellungen weit älterer männlicher User aussetzen? Ist es nicht eher ein Zeichen von widerständiger Stärke und Empowerment, wenn solcherlei Sexting offensiv begegnet wird?
Völlig absurd wird S. Lobos Verteidigung des sog. "Drachenlords", wenn er den jederzeit möglichen Rückzug R. Winklers aus dem Internet als ein Ding der Unmöglichkeit mit dem Argument vom Tisch wischt, dieser könne ja nichts anderes, sei also auf Gedeih und Verderb an den Gaming-Stuhl gefesselt. Einmal abgesehen davon, dass dies in Anbetracht der Fülle bestehender biografischer Entfaltungsmöglichkeiten völliger Unsinn ist, bestärkt der Spiegel-Meinungsmacher einen Menschen darin, einen Weg weiter zu verfolgen, von dem angenommen werden kann, dass dieser über kurz oder lang in den Abgrund führen wird. Der inzwischen 34-jährige R. Winkler wird mit jedem Jahr, das er bettelnd und schnorrend auf Social-Media-Kanälen verbringt, immer weniger in der Lage sein, einen Ausweg aus dieser Abhängigkeit zu finden. Indem S. Lobo den sog. "Drachenlord" darin bestärkt, sich selbst tagtäglich als "Mobbing-Opfer" zu inszenieren, führt er damit einen Abhängigen nur immer weiter in die Abgründe der Sucht. Verantwortungsvoll ist solcherlei Co-Abhängigkeit niemals!
Ich möchte vermuten, dass sich S. Lobo über diese Zusammenhänge auch vollkommen im Klaren ist. Was könnte ihn also dazu bewegen, sich zum Fürsprecher des "Drachenlord" zu machen?
Die Antwort liegt in der kühlen Profitlogik des Mediensystems. Ich möchte behaupten, dass es sich beim sog. "Drachenlord" um eine der bestdokumentierten Biografien in der BRD handelt. Das gestreamte Material in Gänze zu sichten würde wohl locker ganze Wochen Zeit beanspruchen. Eine Fundgrube also für einen Mediendeal: Wie wäre es mit einer Thematisierung von Mobbing am Beispiel von R. Winkler im Serienformat? Erste Ansätze dazu in herkömmlichen Medien hat es bereits gegeben. Hier vermute ich denn auch die wahre Intention S. Lobos: Der sog. "Drachenlord" möge seine Mobbing-Inszenierung unbedingt fortsetzen. Käme es zu einer umfangreichen medialen Verwertung dieser, so hätte S. Lobo sozusagen "den Fuß mit in der Tür". Kreative Manipulatoren und schreibende Hochstapler vom Schlage eines Claas Relotius und Fabian Wolff gibt es gewiss zuhauf. DER SPIEGEL und viele andere deutschsprachige "Leitmedien" wissen ein Lied davon zu singen. Ob sie daraus Lehren ziehen, dürfte bezweifelt werden. Spätestens dann, wenn etwa eine Überschrift lauten könnte: "Der Drachenlord. Eine der schlimmsten Opferverhöhnungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" sollte man wissen, dass mit der banalen Wahrheit kreativ Schindluder getrieben würde.
Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.
Freitag, 24. Februar 2023
Steffen Roski: Zur Soziologie der Stiftung - eine Arbeitsskizze
Dienstag, 24. Mai 2022
Steffen Roski: Aus der Praxis von Dialog in Deutsch
Auf den Internetseiten der Hamburger Bücherhallen beschreibt sich das interkulturelle Sprachangebot "Dialog in Deutsch" (DiD) selbst durch folgende Merkmale: Das Angebot ist öffentlich, kostenlos, versteht sich als politisch und religiös-weltanschaulich neutral, bietet Bildungsinhalte, nutzt die vielfältigen Kompetenzen in den Bereichen Wissen, Sprache und Medien der Hamburger Bücherhallen sowie deren bibliothekarischen Fachpersonals. Jede DiD-Gruppenstunde ist eine Übung in Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen und Lebenswelten.
Der Rahmen der Gruppenstunden ist geschützt, die Teilnehmenden finden mit ihren jeweiligen Sprachniveaus Zugang, d. h. jede*r Ankommende wird angenommen. Im Kern geht es um einen lebensweltlich-praktischen Umgang mit Sprache in einem Kontext multi-ethnischer Vielfalt. Im Vordergrund steht, Raum und Möglichkeit für Gespräch,
Austausch, Kontaktaufnahme und Informationen für diejenigen zu bieten, die ihre erlernten Deutschkenntnisse praktisch anwenden wollen. Die DiD-Gruppengespräche sollen dazu beitragen, dass Teilnehmende sich sicherer der alltäglichen Lebenspraxis und dem gesellschaftlichen Miteinander stellen können.
Getragen wird DiD von der engagierten Zusammenarbeit von hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der Bücherhallen Hamburg. Seit vielen Jahren ist auch der Autor in den Räumen der Hamburger Zentralbibliothek am Hühnerposten für DiD als Gruppenleiter aktiv. Mir geht es im Folgenden darum, einen Einblick in den konkreten Ablauf von DiD-Gruppenstunden, also einen Blick in die DiD-Praxis aus der individuellen Perspektive eines Ehrenamtlichen zu geben.
Im Folgenden möchte ich zunächst die Sequenz einer DiD-Gruppenstunde skizzieren, so wie sich dies für mich Woche für Woche darstellt. Abschließend sollen einige wenige sozialtheoretische Überlegungen das Dialog-in-Deutsch-Projekt in einen wissenschaftlich-gesellschaftlichen Kontext rücken.
"Du" oder "Sie"
Nachdem die Teilnehmenden Platz genommen haben und somit angekommen sind, stellt sich zuerst die Frage, ob das "Du" oder die "Sie"-Form im Verlauf der Stunde verwendet werden sollen. Meist präferieren die Teilnehmenden das "Du", insbesondere dann, wenn vorwiegend junge Erwachsene in der Mehrzahl sind. Doch lohnt es sich, das Thema Nähe und Distanz in der Wahl der Anredeform zum Gegenstand des Dialogs zu machen, was insbesondere dann geboten ist, wenn es in der Stunde etwa darum geht, darüber zu reden, worauf es ankommt, wenn ein Termin in einer offiziellen Einrichtung (Behörde, Arbeitsagentur, Jobcenter etc.) wahrzunehmen ist. Auch thematisiert werden könnten die diversen Schattierungen des "Du": welcher Unterschied besteht etwa zwischen dieser Anrede in der DiD-Gruppenstunde und ihrer Verwendung in Freundschafts- oder Intimbeziehungen. Auf jeden Fall erscheint mir wichtig, diese Frage zu Beginn jeder Stunde zu erörtern.
Überblick über den Verlauf der DiD-Gruppenstunde
Nachdem die Anredeform besprochen und gemeinsam vereinbart worden ist, gebe ich in knapper Form einen Überblick über den Verlauf der DiD-Gruppenstunde: ["Wir beginnen die Stunde mit einer Vorstellungsrunde, überlegen dann, worüber wir heute miteinander sprechen wollen, treten dann in den Dialog ein und beenden die Stunde mit einer Abschluss- oder Feedbackrunde."] Diese Struktur der DiD-Gruppenstunde erscheint zudem visuell auf dem Smartboard, wobei ich auf Wunsch von Teilnehmenden mir angewöhnt habe, bei Nomen stets auch den Artikel hinzuzufügen, sodass folgender Text erscheint: ["Willkommen zu 'Dialog in Deutsch': (1) (die) Vorstellungsrunde, (2) Themen finden, (3) (der) Dialog, (4) (die) Abschluss- oder Feedbackrunde"] Die Vorgabe dieser Grundstruktur ist allgemein genug, um in allen vier Phasen den Teilnehmenden größtmögliche Partizipationsräume zu eröffnen, dabei ist sie zugleich so präzise, dass der Ablauf der DiD-Gruppenstunde klar und transparent gemacht werden kann.
Die Vorstellungsrunde
Ein wichtiger Anker jeder DiD-Gruppenstunde stellt die Vorstellungsrunde dar. Sie bietet gleich zum Einstieg in den Gruppenprozess den Teilnehmenden je individuell die Möglichkeit, sich selbst den anderen zu präsentieren. Als Gruppenleitung beginne ich oft damit, mich selbst den Teilnehmenden vorzustellen und damit ein Muster vorzuschlagen, auf das Teilnehmende zurückgreifen können, die sich möglicherweise sprachlich noch etwas unsicher fühlen: ["Mein Name ist Steffen, ich bin 56 Jahre alt, lebe seit 10 Jahren in Hamburg, bin geschieden und habe einen Sohn, der in Köln studiert."] Der Vorstellungsrunde sollte auf jeden Fall so viel Zeit eingeräumt werden, dass alle Teilnehmenden ohne Druck etwas Persönliches von sich preisgeben können und sei es nur der Vorname und das Alter. Zumeist jedoch erwähnen die Teilnehmenden auch das Land ihrer Herkunft, was natürlich etwas Zentrales über die je eigene Identität zum Ausdruck bringt. Selbstverständlich mag sich bereits aus der Vorstellungsrunde ein Thema für den folgenden Dialog ergeben, was insbesondere dann der Fall ist, wenn in die Selbstpräsentation etwa Hobbys oder sonstige Aktivitäten Eingang finden.
Themen finden
Zuweilen kann die Themenfindung eine Hürde in der DiD-Gruppenstunde darstellen. Für mich gilt folgende Faustregel: Eigene Gesprächsimpulse werden denjenigen von Teilnehmenden nachgeordnet. Anders ausgedrückt: Je mehr Gesprächsofferten aus dem Kreis der Teilnehmenden, desto besser! Und natürlich gibt es eine große Vielfalt solcher Impulse: Teilnehmende mögen z.B. nach einem Wort oder eine ihnen im Alltag begegnende Äußerung fragen, dessen oder deren Bedeutung unklar ist. Durchaus nicht ungewöhnlich ist es, wenn auf die Frage nach einem Themenvorschlag - aus welchen Gründen auch immer - nicht sogleich eine Reaktion aus der DiD-Gruppe kommt. Das ist erst einmal gar nicht so schlimm, weil ja in einer solchen Schweigephase bei den meisten Teilnehmenden eine Reflexion zustande kommt. Pausen und Gesprächsunterbrechungen erzeugen oft unnötigerweise bei der Gruppenleitung eine innere Unruhe. Es lohnt sich aber, dies der Gruppe gegenüber offen zu artikulieren, weil damit dann möglicherweise schon ein Thema der DiD-Gruppenstunde gefunden worden ist: ["Wenn sich Menschen, die sich nicht gut kennen, treffen, wissen sie manchmal nicht, worüber sie reden sollen. Woran kann das liegen?"]
Der Dialog
Um an die gerade gestellte Frage anzuknüpfen: vielleicht ergibt sich ja bei der Themenfindung, dass Leute bloß übers Wetter reden, um überhaupt ein Gespräch miteinander zustande zu bringen. Nun, dann redet die DiD-Gruppe eben übers Wetter, warum denn auch nicht? Leicht ließe sich da ein Hamburg-Bezug herstellen. Auf dem Smartboard könnte etwa erscheinen: ["Hamburger sagen in der Umgangssprache manchmal: 'Dieses Schietwetter kann ich nich ab'."] Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich daraufhin ganz zwanglos ein DiD-Gruppengespräch entspannen wird. Sollte sich das Thema ["Wetter"] inhaltlich erschöpft haben, lässt sich dessen sprachliches Potenzial im Weiteren nutzen: ["In formaler Sprache würde man sagen: 'Wenn das Wetter dauernd schlecht ist, dann mag ich das nicht.'"] Ich bin immer wieder überrascht, wie rasant eine DiD-Gruppenstunde vorüber geht. Das Einkuppeln einer sprachlichen Referenzebene - das kann, wie im Beispiel, eine formalsprachliche Übersetzung eines alltagssprachlichen Ausdrucks sein; denkbar wäre auch die Erläuterung einer grammatischen Struktur oder Grundregel etc. - erlaubt, das thematisch-inhaltlich Diskutierte im komplexen Gewebe der Sprache zu verankern.
Die Abschluss- oder Feedbackrunde
Je nach Teilnehmendenzahl räume ich zum Ende der DiD-Gruppenstunde genügend Zeit für eine Rückmeldung ein: ["Wie hat dir die heutige Stunde gefallen?"] Die Abschluss- oder Feedbackrunde gibt den Teilnehmenden die Möglichkeit, rückzumelden, was sie gegebenenfalls aus der Stunde mitgenommen haben. Gab es Kritisches anzumerken? Hat sich die Gruppenleitung klar und verständlich ausgedrückt? Somit ist für mich diese letzte Phase der DiD-Gruppenstunde zugleich der Einstieg in die Reflexion und Selbstevaluation. Beispielsweise habe ich aus einer solchen Abschluss- oder Feedbackrunde die Anregung mitgenommen, Nomen nicht isoliert anzuschreiben, sondern stets den ihnen zugehörigen bestimmten Artikel hinzuzufügen. Eine gute Anregung, wie ich finde!
Sozialtheorie und Dialog in Deutsch
Gewiss, Dialog-in-Deutsch genügt sich so wie das Projekt konzipiert ist, völlig selbst. Dennoch mag es erhellend sein, die Praxis der DiD-Gruppenstunde in den Kontext gegenwärtiger sozialtheoretischer Debatten zu stellen. Als Ausgangspunkt dient mir dabei folgende Publikation: [Bruno Latour, An Inquiry into Modes of Existence. An Anthropology of the Moderns, Cambridge, Mass.: Harvard UP, 2013]
Folgende Gesichtspunkte erscheinen mir dabei interessant:
DiD ist ohne Anbindung an eine Organisation [ORG] gar nicht denkbar. Die Bücherhallen Hamburg bieten allein in der Zentralbibliothek über 28.000 Medien in über 27 Sprachen und halten mehr als 7.000 Zeitschriften und Zeitungen aus über 100 Ländern in mehr als 60 Sprachen vor. Dazu kommen vielfältige eLearning- und Online-Sprachkurse, Streaming-Angebote, eBooks, Lehrmaterialien für "Deutsch als Zweitsprache" etc. Die Welt des Wissens, der Bildung und der Wissenschaft [REF] ist entweder physisch oder via Doppelklick [DK] verfügbar. In der Zentralbibliothek steht darüber hinaus ein offenes WLAN zur Verfügung, das die Teilnehmenden der DiD-Gruppenstunden über ihre Smartphones [DK] gern nutzen. Ein Smartboard erlaubt der Gruppenleitung auf das Internet [DK] zuzugreifen und Ergebnisse von Recherchen zu visualisieren und gegebenenfalls weiter zu be- und verarbeiten. DiD stellt somit ein Interaktionsgeschehen im Rahmen eines organisierten Sozialsystems [ORG] dar. Die in diesem Kontext gemachten Erfahrungen fließen wiederum in verschiedenste gesellschaftliche Zusammenhänge ein, wofür der vorliegende Text selbst wiederum ein Beispiel darstellt. Und alles Gesellschaftliche wiederum kann Woche für Woche Thema der DiD-Gruppenstunden werden [Interaktion|Organisation|Gesellschaft; Niklas Luhmann]. Dialog in Deutsch veranschaulicht die Dualität von Handlung einerseits und Struktur andererseits auf sinnfällige Weise [Theorie der Strukturation; Anthony Giddens].
Nicht vergessen werden sollte, dass ein Projekt wie DiD für Menschen, die eine öffentliche Bibliothek [ORG, REF] eher nicht oder sehr selten betreten, eine Art Türöffner darstellen kann. In der Sprache Latours: Der Strom der Gewohnheiten [GEW] wird mit dem Betreten der Bibliothek [ORG, REF], dem Eintritt in den DiD-Gruppenraum und der folgenden Teilnahme an der DiD-Gruppenstunde unterbrochen, was sich bei den Teilnehmenden bemerkbar macht ["Hiatus"]. Die DiD-Gruppenstunde wiederum stellt einen sinnhaften Handlungsverlauf dar, der über riskante Diskontinuitäten hinweg - als Beispiel sei das Finden eines geeigneten Gesprächsthemas (s.o.) genannt - eine wertorientierte Kontinuität erlangt ["Trajektorie"]. Eine DiD-Gruppenstunde ergibt idealerweise einen gerichteten Handlungsbogen (s.d. was oben über den Ablauf der DiD-Gruppenstunde gesagt worden ist), der anhand von spezifischen Maßstäben geprüft und bewertet wird. Dies geschieht am Ende einer jeden DiD-Gruppenstunde in der Abschluss- oder Feedbackrunde ["Gelingens- und Misslingensbedingungen"].
Insgesamt stellt eine DiD-Gruppenstunde einen spezifischen Wertschöpfungsprozess dar und bringt im Erfolgsfall Entitäten ["zu instaurierende Wesen"] hervor, die von den Teilnehmenden und Gruppenleitungen in ihre jeweiligen Lebenswelten mitgenommen werden können und die ohne die Teilnahme an einer DiD-Gruppe so nicht zustande gekommen wären. Dies können z.B. neue Gewohnheiten [GEW], Informationen aus Politik [POL], Recht [LAW] und Religion [REL] sein. Auch ist denkbar, dass Attachments oder Bindungen [BIN] über die Teilnahme an Dialog in Deutsch entstehen und moralische Codes [MOR], Werte und Normen in Frage gestellt, vielleicht gar modifiziert werden. Jedenfalls ist nicht ausgeschlossen, dass die Teilnahme an einer DiD-Gruppenstunde die jeweiligen Lebenswelten auf eine bestimmte Weise verändern und ergänzen mögen ["Alterierung"], indem (1) Handlungen koordiniert werden, (2) Figuren erfunden [FIK] oder (3) Bindungen [BIN] hergestellt werden. [Beispiel für (1): Wie finde ich mich in Hamburgs ÖPNV zurecht?; Beispiel für (2): In der DiD-Gruppenstunde wurde über Aschenputtel gesprochen; Beispiel für (3): Ich habe über DiD eine*n Kunstinteressierte*n kennengelernt und es geht gemeinsam kommende Woche in die Sammlung Falckenberg]
Insgesamt lässt sich am Projekt Dialog in Deutsch der Charakter eines Netzwerks [NET] auf sinnfällige Weise exemplifizieren: selbst ein Netzwerk [NET] im Kontext der Organisationsstruktur [ORG, REF] Bücherhallen trägt DiD Woche für Woche durch gerichtete Vernetzungsvorgänge (DiD-Gruppenstunden) zur Entfaltung vielfältiger Netzwerke [NET] in den diversen Lebenswelten der an DiD Teilnehmenden bei. Und diese Vielfalt an Netzwerken [NET] wiederum wirkt stets aufs Neue und in oft überraschender Weise zurück auf jede DiD-Gruppenstunde.