Donnerstag, 16. November 2023

Steffen Roski: Der philanthropische Komplex: Weltgesellschaft, transformative Agenden, Zivilsphäre und Stiftungsorganisationen


Einleitung

Talcott Parsons und Gerald M. Platt haben in ihrer 1974 veröffentlichten 
Studie „The American University“ Struktur, Funktion und Evolution des US-
Universitätssystems einer handlungstheoretischen Analyse unterzogen. Die 
Form der modernen Universität erscheint dabei als organisatorische 
Auskristallisation eines größeren Handlungs- und Sozialgefüges, welches die 
Autoren den „kognitiven Komplex“ nennen. Evolutionär betrachtet ist der 
kognitive Komplex das Resultat von Differenzierungs- und 
Interpenetrationsprozessen, in die Ressourcen des allgemeinen 
Handlungssystems einfließen, sodass diese auf der Ebene des Sozialsystems 
institutionalisiert werden können. Die moderne Universität erscheint im 
Lichte dieser theoretischen Perspektive als eine Organisationsform, die 
Wissen, Rationalität, Forschung und Lehre, die Bereitschaft, kognitiv-
lernbereit zu erwarten, professionelle Kompetenz sowie Intelligenz als eine 
generalisierte Ressource des allgemeinen Handlungssystems umfasst.
Ich möchte behaupten, dass das Konzept „Komplex“ dazu taugt, die
inklusionstheoretisch orientierte Theorie der Weltgesellschaft zu bereichern. 
Analoge Studien zur „Amerikanischen Universität“ wären denkbar: Spannt 
man den handlungstheoretischen Bezugsrahmen so weit auf, wie Parsons dies 
in seinem Spätwerk getan hat, ergäben sich m.E. fruchtbare Fragestellungen 
und Rekonstruktionen mancher die Soziologie noch immer bestimmender 
Debatten, z.B. jene wohl nie enden wollenden Kontroversen um den 
„Kapitalismus“ (Harris & Delanty, 2023) oder den „Staat“ (Evans, 
Rueschemeyer & Skocpol, Hrsg., 1990). Parsons und Platt selbst deuten den 
Weg an: „the university has spearheaded the educational revolution, perhaps 
in ways comparable to those in which highly efficient firms spearheaded the 
mature phases of the industrial revolution.“ (Parsons & Platt, 1974, S. 6) Auch 
der moderne demokratisch verfasste Staat könnte in solcher Weise als 
institutionelle „Speerspitze“ eines politisch-administrativen Komplexes 
begriffen werden, der in das Fahrwasser der demokratischen 
Inklusionsrevolution geraten ist.

Philanthropie als ein evolutionäres Universal

Ganz im Sinne eines solchen inklusionstheoretischen Forschungsprogramms 
stelle ich mir die moderne Form der „Stiftung“ als eine organisatorische 
Auskristallisierung des philanthropischen Komplexes vor. Damit verbunden ist 
die Überzeugung, dass das Stiftungswesen zu einer wichtigen einzelnen Größe 
in der Entwicklung der Struktur der modernen Gesellschaft geworden ist. Der 
Wert stifterischen Handelns liegt dabei in seiner Freiwilligkeit, weshalb diesem 
in der „zivilen Sphäre“ (Alexander, 2006) der modernen Gesellschaft ein hoher 
Wert zukommt.
In gesellschaftsvergleichender Perspektive erscheint Philanthropie als ein 
„evolutionäres Universal“ (Parsons, 1964). Bereits in der Antike des 5. 
Jahrhunderts v.Chr. lassen sich wesentliche Merkmale philanthropischen 
Handelns erkennen, die für den philanthropischen Komplex der Moderne 
prägend sein werden. Menschenfreundliches Denken und Verhalten stand 
bereits in der Zeit von Homer und Hesiod im Spannungsfeld von Inklusion 
und Exklusion, weil dieses „sich in der Regel nicht unterschiedslos auf alle 
Menschen erstreckt, sondern nur auf bestimmte Gruppen“ (Ritter & Gründer, 
Hrsg., 1989, S. 543). Weiterhin ist Philanthropie, ganz gleich wie inklusiv diese 
Anwendung findet, stets seit Alters her aufs Engste verknüpft mit den 
Strukturen sozialer Ungleichheit: Wer darf sich berechtigt fühlen, sich zu 
menschenfreundlichem Handeln herabzulassen? Welche Vorteile, z.B. 
hinsichtlich Status und Prestige, bietet sein Engagement dem antiken 
Philanthropos?
Philanthropen gehören somit dem buntgemischten Komplex der 
„Einflussreichen“ an, denen ein hohes Sozialprestige positiv attribuiert wird.
Die soziale Tatsache Philanthropie, soweit lässt sich bis hierhin feststellen, 
muss tief im allgemeinen Handlungssystem verankert sein, um schließlich in 
der seit Mitte des 18. Jahrhunderts heraufkommenden modernen Gesellschaft 
in einen Komplex zu münden, der durch vielfältige Grenzbeziehungen und 
strukturelle Kopplungen mit den verschiedenen sich zunehmend 
ausdifferenzierenden und verselbstständigenden Teilsystemen der 
Gesellschaft charakterisiert ist. Analog zu „Intelligenz“ als generalisierter 
Ressource des kognitiven Komplexes möchte ich in Anlehnung an die 
Medientheorie von Talcott Parsons (1975, S. 109) vorschlagen, „Affekt“ als eine 
solche Ressource für den philanthropischen Komplex vorzusehen. 

Das Erscheinen des philanthropischen Komplexes im Leitmedium 
Affekt

Auf den ersten Blick mag der Sozialsystembezug von Affekt etwas befremdlich 
erscheinen, wie Parsons selbst feststellt, wenn er auf eine Kontroverse mit 
Victor Lidz, Mark Gould und Dean Gerstein verweist, die dafür optiert haben, 
das Medium primär auf der Ebene des Persönlichkeitssystems zu verankern. 
Parsons widerspricht entschieden und konzeptualisiert Affekt als „generalized medium most definitely concerned with the mobilization and control of the 
factors of solidarity in Durkheim's sense.“ Darin eingeschlossen sind einmal 
die kathektischen Verpflichtungen, die Personen eingehen, um an solidarisch-
kommunikativen Vereinigungen und Organisationen teilzunehmen. Im 
Weiteren fließen Werte und Standards ein, die sich aus moralischen Quellen 
speisen. Schließlich sind individuelle und kollektive Akteure gehalten, 
rationale Gründe für ihren jeweiligen „Affekthaushalt“ angeben zu können, 
denn schließlich gilt es, diese Ressource zwischen möglicherweise 
konkurrierenden Verpflichtungen der zivilen Sphäre gegenüber zu allozieren. 
Darüber hinaus stellt sich ein noch weiteres Problem der Affektzuteilung, 
wenn Mehrfachmitgliedschaften und Rollenperformanzen innerhalb der 
verschiedenen Vereinigungen und Organisationen der Funktionssysteme wie 
Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Familie, Kunst, Sport usw. zu 
berücksichtigen sind.
Von einer vollständigen Ausdifferenzierung und Autonomie dieser Palette von 
Funktionssystemen der Gesellschaft kann dann gesprochen werden, wenn, 
wie Rudolf Stichweh (2009, S. 29) feststellt, „die kommunikative 
Berücksichtigung von Personen … als Mitgliedschaft nach dem Beispiel von 
‚citizenship' oder von Organisationszugehörigkeit“, gewährleistet ist. Der 
philanthropische Komplex der modernen Gesellschaft hat solche 
Inklusionsprozesse zur Voraussetzung, genauso wie dieser selbst, z.B. über 
die Organisationsform der philanthropischen Stiftung, Inklusionen zu 
vermitteln und voranzutreiben imstande ist. 

Entwicklungslinien organisierter Philanthropie

In den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften des christlich-
lateinischen Mittelalters deckt sich bereits im 5. Jahrhundert „die Bedeutung 
des ursprünglich antik-heidnischen Begriffs Philanthropie weitgehend mit der 
Bedeutung des christlichen agape-Begriffs.“ (Ritter & Gründer, Hrsg., 1989, 
S. 547) In einer komparativen Perspektive nimmt nun die Religion, wie 
Stichweh (2021, S. 20) völlig zu Recht hervorhebt, die Rolle eines Vorreiters in 
der Geschichte der Inklusionsrevolutionen ein. Für philanthropisches 
Engagement gab es keine wirkliche Alternative als sich in den Inklusionssog 
der „Christianitas“ einzufügen, was sich besonders daran zeigte, wie das 
Phänomen der Armut betrachtet wurde. Im Anschluss an Kate Crassons 
(2010) konstatiert Stichweh: „Therefore, it became very important for rich 
people to give a significant portion of their property to institutions that helped 
the poor and indigent.“
Evelyn Moser (2020, S. 308-313) arbeitet in ihrer explorativen Skizze zu 
philanthropischen Inklusionen heraus, dass die soziale Form der Stiftung 
bereits im christlichen Mittelalter einen gewichtigen Anschub erhielt und sich 
damit Inklusions- und Rollenstrukturen etablieren konnten, „die ihre Spuren 
bis hin zu heutigen Formen organisierter Philanthropie hinterlassen haben.“ 
(Moser, 2020, S. 309) Der Historiker Michael Borgolte (Hrsg., 2014, 2016, 
2017) hat ein international vergleichendes Forschungsprogramm zum 
Stiftungswesen in mittelalterlichen Gesellschaften angestoßen und für das lateinische Christentum ein spezifisches Einflusshandeln im Kontext der 
Religion herausgearbeitet. Diese erscheint als dasjenige Teilsystem der 
stratifizierten Gesellschaft, welches die größtmöglichen Inklusionschancen 
offerierte und mit der transzendenten Seelenheilslehre ein Konzept anbot, dem 
„zufolge sich das individuelle postmortale Seelenheil im Jenseits durch 
gezielte Handlungen und Gebete im Diesseits positiv beeinflussen ließe.“ 
(Moser, 2020, S. 309) Ausgehend von diesem jenseitigen Metazweck 
mittelalterlicher Stiftungen konnte philanthropisches Handeln entlang des 
mittelalterlichen Armutsverständnisses konkrete Gestalt annehmen. Die 
Inklusionsverhältnisse dieser Gesellschaftsform sowohl folgend als auch 
stabilisierend, bildete sich in Form eines Gabentauschs eine ins 
Transzendente gehobene Einflussbeziehung zwischen dem Stifter und Gott 
heraus: „Gott – oder Christus – wurde also als Empfänger der Gaben 
angesehen und schuldete dafür dem Spender sein Gedenken.“ (Borgolte, 
2014a, S. 20) Wiewohl Stiftungen und deren klerikale Destinatäre mit ihren 
Leistungsrollen wichtige Akteure waren, generierten diese nur selten neue 
Strukturen, sondern halfen im Rahmen ihres nur minimalen 
Handlungsspielraums vielmehr die bestehende Ordnung und damit die 
Inklusionsverhältnisse der stratifizierten Gesellschaft zu stabilisieren.
Im 18. Jahrhundert, genauer seit etwa 1750, gerieten die Strukturen der 
stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft ins Wanken, was darin seinen 
Ausdruck fand, dass die entstehenden Funktionssysteme begannen, immer 
mehr Gesellschaftsmitglieder zu inkludieren. (Stichweh, 2021, S. 19) Auch der 
philanthropische Komplex gewann seit der zweiten Hälfte des 18. 
Jahrhunderts eine deutliche Erweiterung seiner gesellschaftlichen Reichweite 
als ihm die pädagogische Reformbewegung des Philanthropismus neue 
programmatische Impulse verlieh. (Ritter & Gründer, Hrsg., 1989, S. 548) In 
der beginnenden Moderne begannen vor allem drei große 
Inklusionsrevolutionen Raum zu greifen: die industrielle Revolution, die 
demokratische Revolution und die Bildungsrevolution. (Parsons & Platt, 1974, 
S. 1; Parsons, 1971) Am Beispiel der sich verändernden Rolle des Armen lässt 
sich der Übergang von der stratifikatorisch differenzierten hin zur funktional 
differenzierten Gesellschaft gut veranschaulichen. Mit den Programmen der 
Sozialdisziplinierung wurden Bedürftigkeiten überprüft, kategorisiert und 
hierarchisiert und entsprechend entstanden mit den Institutionen von 
Polizeiordnungen, Erziehung, ständischer Gesittung und vieler anderer mehr 
(Stichweh, 2009, S. 29) in direkter Korrelation „Gemeinwohlstiftungen und 
Policey-Stiftungen“, die komplementär zur Verwaltung der Städte 
Wohltätigkeitsmaßnahmen für Bettler unterstützten. Die Religion ist nicht 
länger das funktionale Leitsystem, welches philanthropischem Engagement 
Orientierung und Legitimation gibt: „Armut galt nicht länger als ein 
gottgewollter Zustand, sondern als ein Problem für die öffentliche Ordnung, 
das sich zunächst vor allem in den Städten zeigte und auf Bearbeitung und 
im Idealfall auf Abschaffung drängte.“ (Moser, 2020, S. 314; Luhmann, 1997, 
S. 623)
Die Umweltverhältnisse, denen sich der philanthropische Komplex sich in der 
Moderne gegenübersieht und in die er sich in komplexen Interpenetrationen 
und strukturellen Kopplungen einfügt, haben sich gegenüber der leitsystemischen Orientierung an der Religion in stratifizierten Gesellschaften 
radikal gewandelt. Philanthropisches Engagement und seine 
Organisationsform Stiftung sieht sich vor evolutionär neuen
Herausforderungen gestellt: soll Einfluss auf den verschiedenen Ebenen der 
Gesellschaft in einer Bandbreite erfolgen, die den gesatzten stifterischen 
Entscheidungsprämissen entspricht, bedarf es z.B. der Orientierung an der 
Gemeinwohl-Kontingenzformel (Luhmann 2002, S. 120) der Politik, 
ökonomischer Finanzialisierung, Rechtsfähigkeit, der Kooperation mit 
anderen Akteuren einer immer selbstbewussteren Zivilgesellschaft, 
tragfähiger interner administrativ-organisatorischer Strukturen sowie generell 
der Herstellung einer stabilen Legitimationsbasis gegenüber den diversen 
Umwelten der Gesellschaft. (Goeke & Moser, 2021) Tatsächlich kann davon 
gesprochen werden, dass der philanthropische Komplex, der sich allein in der 
Bundesrepublik Deutschland segmentär in über 20.000 Stiftungen 
ausdifferenziert hat, nicht nur ökonomisch immer besser ausgestattet, 
sondern im Hinblick seines Einflusses auf die zivile Sphäre der modernen 
Gesellschaft mit der Organisationsform Stiftung immer ambitioniertere 
Zielsetzungen verfolgt.

Theoriebautechnische Optionen

An dieser Stelle erscheint mir eine theoretisch-begriffliche Klarstellung 
erforderlich. M.E. hat sich Talcott Parsons keinen Gefallen getan, das 
integrative Subsystem des sozialen Systems als „societal community“ zu 
bezeichnen. Soziologen mit einem Hang zu Paradoxien mögen an dieser 
Bezeichnung Gefallen finden. Weit gewinnbringender dürfte demgegenüber 
das Forschungsprogramm der Systemtheorie Niklas Luhmanns sein, der klar 
konturierte Einzelstudien zu den Funktionssystemen Wirtschaft, Politik, 
Recht, Intimbeziehungen, Erziehung, Kunst, Wissenschaft und Religion 
verfasst hat. (Neben vielen ausführlichen Einzelstudien ist der knappe 
Überblick in Luhmann, 1986, instruktiv.) Dennoch: die zentrale 
Problemstellung des von Parsons grundgelegten Forschungsprogramms nach 
den Bedingungen der Möglichkeit des Zustandekommens sozialer Ordnung 
(Parsons, 1937) blieb auch nach Luhmann eine Herausforderung an die 
soziologische Theoriebildung. Rudolf Stichweh hat beginnend mit Studien zu 
Differenzierung und Verselbstständigung und sodann mit breit angelegten 
Analysen zu Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit unter den 
Leitparadigmata Inklusion und Exklusion das Luhmannsche 
Forschungsprogramm anschlussfähig auch an Theorieströmungen gemacht, 
die die Genese einer Weltgesellschaft nicht notwendigerweise nur
systemtheoretisch begründen. Mit Stichweh lässt sich die Grundfragestellung 
von Talcott Parsons genauer wie folgt formulieren: Wie lässt sich die 
Sozialdimension der Kommunikation unter den paradigmatischen Figuren der 
Mitgliedschaft, der Solidarität und der massenweisen Disziplinierung mit der 
Leitunterscheidung von Inklusion und Exklusion ausformulieren? 
Tatsächlich wäre hier der Ort für das im AGIL-Schema mit „I“ designierte und im nordöstlichen Quadranten des Schemas verortete Teilsystem des sozialen 
Systems. Parsons löste das Problem damit, dass er die Tönniesschen 
Mustervariablen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ zur „societal community“ 
amalgamiert. Allein, kann eine „gesellschaftliche Gemeinschaft“ ein 
Teilsystem der Gesellschaft (sic!) analog zu etwa Wirtschaft und Politik sein? 
Wohl kaum! Ich möchte deshalb anregen, in das inklusionstheoretische 
Forschungsprogramm den Ansatz von Jeffrey C. Alexander (2006) der „zivilen 
Sphäre“ einzubeziehen. Inklusion bedeutet in der Moderne die 
Basisinstitution des Individuums in sowohl seiner Einheit als auch in seiner 
Mikrodiversität in den verschiedenen funktionalen Teilsystemen der 
Gesellschaft zur Geltung zu bringen. (Stichweh & Ahlers, 2021, S. 209-210)
Alexander (2006, S. 33) zeigt das Problem auf, mit dem Inklusionen in der 
Moderne stets konfrontiert sind: „When the domination of one sphere over 
another, or the monopolization of resources by elites within the individual 
spheres themselves, has been forcefully blocked, it has been by bringing to 
bear the cultural codes and regulative institutions of the civil sphere.“
Der philanthropische Komplex ist mit der zivilen Sphäre verwoben. 
Individuelle Akteure (z.B. Intellektuelle, Meinungsführer aus sozialen 
Bewegungen usw.) und Organisationen (z.B. philanthropische Stiftungen, 
NGO usw.) machen ihren Einfluss z.B. auf die öffentliche Meinung, 
Wirtschaftsunternehmen und politische Parteien geltend, indem sie sich der 
kulturellen Codes, Motive und Beziehungsmuster (Alexander, 2006, S. 57-58) 
der zivilen Sphäre bedienen. Jeffrey C. Alexander hebt hervor, dass jedwede 
fruchtbare Analyse sozialer Spaltung und Konfliktlinien, von Inklusionen und 
Exklusionen einen Bezug zur zivilen symbolischen Sphäre herstellen muss: 
„we must recognize and focus on the distinctive symbolic codes that are 
critically important in constituting the very sense of society for those who are 
within and without it.“ (Alexander, 2006, S. 54) Eine hinreichend komplex und 
differenziert angelegte Theorie der Organisationsform Stiftung als Impulsgeber 
einer „transformativen Philanthropie“ ist gut beraten, „the issue of legitimacy 
and the challenge to generate and maintain legitimacy“ (Goeke & Moser, 2021, 
S. 20), in den Kontext eines philanthropischen Komplexes zu rücken, der 
sowohl mit der zivilen Sphäre der Gesellschaft als auch ihren 
Funktionssystemen in Grenz- und Interpenetrationsbeziehungen steht.
Keinesfalls darf eine Analyse des philanthropischen Komplexes und die ihn 
beinhaltenden Stiftungsorganisationen einer transformativen Philanthropie 
hinter den von Talcott Parsons fundierten theoretischen Bezugsrahmen 
zurückbleiben: „The main guiding line of the analysis is the concept that a 
complex social system consists of a network of interdependent and 
interpenetrating subsystems, each of which, seen at the appropriate level of 
reference, is a social system in its own right, subject to all the functional 
exigencies of any such system relative to its instutionalized culture and 
situation and possessing all the essential structural components, organized 
on the appropriate levels of differentiation and specification.“ (Parsons, 1961, 
S. 44)
Befreit man die soziologische Theoriebildung von mancherlei Rigiditäten des 
AGIL-Schematismus erscheint mir das Konzept der zivilen Sphäre sehr geeignet dazu, die Theorie der weltgesellschaftlichen Inklusionen und 
Exklusionen zu bereichern. 

Einflusshandeln als Rollenkategorie

Allgemein betrachtet unterscheidet Rudolf Stichweh (2009, S. 32) im 
Wesentlichen zwei Rollenkategorien des „institutionalisierten 
Individualismus“ (Parsons, 1970, S. 67) in der weltgesellschaftlichen Moderne: 
Leistungsrollen und Publikumsrollen. Stellt man die Analyse transformativer 
Philanthropie in den Kontext dieses theoretischen Bezugsrahmens, dann ließe 
sich eine weitere bedeutsame Rollenkategorie hinzufügen, die das Handeln 
von Akteuren der zivilen Sphäre in besonderer Weise charakterisiert, dem 
„Einflusshandeln“ nämlich. So treten z.B. Stiftungen als Akteure der zivilen 
Sphäre in Erscheinung: „They do, in fact, make commitments of the 
association's name beyond the level of explicit authorization … In so doing, 
they add to the net amount of influence circulating in the system and have an 
effect on the distribution of commitments in the society in the direction of 
promoting the ‚causes' they hold to be desirable.“ (Parsons, 1963, S. 62) In 
ihrer organisationstheoretisch angelegten Untersuchung der transformativen 
Philanthropie heben Pascal Goeke & Evelyn Moser (2021, S. 20) hervor, dass 
Stiftungen, wollen sie gesellschaftlich wirksam sein, einen Standpunkt z.B. in 
Fragen des Gemeinwohls konstruieren müssen, um darüber dann Legitimität 
gegenüber ihren gesellschaftlichen Umwelten adäquat begründen zu können.
Tatsächlich liegt hierin auch die Achillesferse des Handelns organisierter 
Akteure des Typs Stiftungen: auf der einen Seite üben diese Einfluss aus 
sowohl in der zivilen Sphäre als auch auf die Elitekommunikationen und
Programmgestaltungen in den diversen Funktionssystemen der Gesellschaft. 
Zugleich befinden sich Stiftungen als Träger transformativer Agenden selbst 
im Fadenkreuz der zivilen Sphäre: sie haben sich selbst zu legitimieren,
sowohl hinsichtlich der Herkunft ihrer Finanzausstattung als auch 
hinsichtlich ihrer Zielsetzungen in Politik, Wirtschaft, Kunst, Bildung, 
Wissenschaft usw. Der philanthropische Komplex wird in seinen
gesellschaftlichen Grenzbeziehungen und Einflussversuchen durch Träger 
von gesellschaftlichen Leistungs- und Publikumsrollen beobachtet und 
hinterfragt.

Literatur:

J. C. Alexander (2006): The civil sphere, Oxford u.a.: Oxford University Press
M. Borgolte (Hrsg., 2014): Enzyklopädie des Stiftungswesens in 
mittelalterlichen Gesellschaften. Band 1: Grundlagen (unter Mitarbeit von: Z. 
Chitwood, E. Kozma, T. Lohse, I. Sánchez & A. Schmiedchen), Berlin: 
Akademie Verlag
M. Borgolte (2014a): „Stiftung – Mittelalterlicher Sprachgebrauch und 
moderner Begriff", in: ders., Hrsg., 2014, S. 19-23
M. Borgolte (Hrsg., 2016): Enzyklopädie des Stiftungswesens in 
mittelalterlichen Gesellschaften. Band 2: Das soziale System Stiftung (unter 
Mitarbeit von Z. Chitwood, E. Kozma, T. Lohse, I. Sánchez & A. Schmiedchen), 
Berlin & Boston: Walter de Gruyter
M. Borgolte (Hrsg., 2017): Enzyklopädie des Stiftungswesens in 
mittelalterlichen Gesellschaften. Band 3: Stiftung und Gesellschaft (unter 
Mitarbeit von: Z. Chitwood, S. Härtel, C. la Martire, T. Lohse & A. 
Schmiedchen), Berlin & Boston: Walter de Gruyter
K. Crassons (2010): The claims of poverty. Literature, culture, and ideology in 
late medieval England, Notre Dame: Ind.: University of Notre Dame Press
P. B. Evans, D. Rueschemeyer & T. Skocpol (Hrsg., 1990): Bringing the state 
back in, Reprinted, Cambridge u.a.: Cambridge University Press
P. Goeke & E. Moser (2021): Transformative foundations: Elements of a 
sociological theory of organized philanthropic giving (FIW Working paper, no. 
16), Bonn
N. Harris & G. Delanty (2023): „What is capitalism? Toward a working 
definition, in: Social Science Information (18.10.2023, in print)
N. Luhmann (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne 
Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen & Köln: 
Westdeutscher Verlag
N. Luhmann (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft (Zwei Teilbände), 
Frankfurt/Main: Suhrkamp
N. Luhmann (2002): Die Politik der Gesellschaft (Hrsg. von A. Kieserling), 
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Lizenzausgabe, 
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000)
E. Moser (2020): „Philanthropische Inklusionen: Gemeinnützige Stiftungen in 
der Gesellschaft“, in: Soziale Systeme 25(2), S. 305-328
T. Parsons (1937): The structure of social action. A study in social theory with 
special reference to a group of recent European writers, Glencoe, Ill.: The Free 
Press
T. Parsons (1961): „An outline of the social system“, in: Ders., E. Shils, K. D. 
Naegele & J. R. Pitts (Hrsg.): Theories of society (Two volumes in one), New 
York u.a.: The Free Press, S. 30-79
T. Parsons (1963): „On the concept of influence“, in: The Public Opinion 
Quarterly 27(1), S. 37-62
T. Parsons (1964): „Evolutionary universals in society", in: American 
Sociological Review 29(3), S. 339-357
T. Parsons (1970): „Equality and inequality in modern society, or social 
stratification revisited“, in: Sociological Inquiry 40(Spring), S. 13-72
T. Parsons (1971): The system of modern societies, Englewood Cliffs, NJ: 
Prentice-Hall 
T. Parsons (1975): „Social structure and the symbolic media of interchange“, 
in: P. M. Blau (Hrsg.): Approaches to the study of social structure (A publication 
of the American Sociological Association), New York: The Free Press, S. 94-
120
T. Parsons & G. M. Platt (1974): The American university (With the 
collaboration of N. J. Smelser), Cambridge, Mass.: Harvard University Press
J. Ritter & K. Gründer (1989): Historisches Wörterbuch der Philosophie (Band 
7:P-Q, darin: Philanthropie, Autoren: R. Rehn, A. Hügli & D. Kipper), Basel: 
Schwabe, S. 543-551
R. Stichweh (2009): „Leitgesichtspunkte einer Soziologie der Inklusion und 
Exklusion", in: Ders. & P. Windolf (Hrsg.): Inklusion und Exklusion: Analysen 
zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Wiesbaden: VS Verlag für 
Sozialwissenschaften, S. 29-42
R. Stichweh (2021): „Individual and collective inclusion and exclusion in 
political systems“, in: A. L. Ahlers, D. Krichewsky, E. Moser & Ders. (Hrsg.): 
Democratic and authoritarian political systems in 21st century world society
(Volume 1 – Differentiation, inclusion, responsiveness), [Global Studies & 
Theory of Society, Volume 5], Bielefeld: transcript Verlag, S. 13-38
R. Stichweh & A. L. Ahlers (2021): „The bipolarity of democracy and 
authoritarianism and its societal origins“, in: Dies., D. Krichewsky, E. Moser 
& Ders. (Hrsg.): Democratic and authoritarian political systems in 21st century 
world society (Volume 1 – Differentiation, inclusion, responsiveness), [Global 
Studies & Theory of Society, Volume 5], Bielefeld: transcript Verlag, S. 209-240


Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

Montag, 4. September 2023

Steffen Roski: Die Inszenierung des Social-Media-Syndroms "Drachenlord"

Wenn Sozialwissenschaftler über Medien forschen, beziehen sie sich in der Regel auf die geheiligte Sphäre des seriösen Journalismus mit seinen paradigmatischen Leitsternen wie SZ, F.A.Z., DIE ZEIT, DER SPIEGEL usw. Der Diskurs ist eingeübt, gepflegt, es wird feinsten Nuancen größte Beachtung geschenkt. Wir dürfen beobachten, wie die Forschung gerade die Facetten der "Causa Aiwanger" im Spiegelkabinett der Medienkritik detailreich analysiert.


Weit weniger Beachtung wird dagegen jenen trüben Social-Media-Gewässern gewidmet, in denen sich die auf ihren Gaming-Stühlen und abgewetzten Sofas lümmelnden mehr oder weniger professionellen Online-Bettler tummeln, die ihrem Publikum zu jeder Tages- und Nachtzeit ein wenig Kleingeld aus dem Kreuz zu leiern bestrebt sind. 


Hierarchisierte man die BRD-Medien pyramidal, so fände man an ihrer Spitze die sog. "Leitmedien" (FAZ, Spiegel & Co.) und ganz unten auf dem breiten Grund der Pyramide eben jene Bettel-Kanäle, von denen TikTok eine unrühmliche Prominenz erlangt hat.


Es gibt kaum Abstoßenderes als erwachsenen Menschen dabei zuzusehen, wie sie ihrer juvenilen Zuseherschaft etwas von ihrem Taschengeld abzupressen suchen, indem sie diese dazu auffordern zu "tippen, tippen, tippen, liken,  liken, liken". 


Zum Kreis jener Berufsbettler zählt auch der sog. "Drachenlord", bürgerlich Rainer Winkler. Gerichtsfest als "vermindert intelligent" eingestuft, stammelt sich dieser sprachlich unbeholfen und limitiert allabendlich mit breitem fränkischen Akzent durch zahlreiche Streams und "Live-Matches", um von seiner TikTok-Anhängerschaft, den sog. "Drachis",  seinen Lebensunterhalt zusammenzuschnorren.


Im Jahre 2021 wurde R. Winkler wegen gefährlicher Körperverletzung und anderer Straftaten rechtskräftig verurteilt.  Interessanterweise erregte der zu seiner Verurteilung führende Gerichtsprozess die Aufmerksamkeit ausgerechnet eines führenden BRD-Leitmediums. 


In Gestalt des Autoren und Internet-Strategieberaters Sascha Lobo widmete DER SPIEGEL im Jahre 2021 in seiner Online-Ausgabe einen Meinungsbeitrag zum sog. "Drachenlord". Lobo, ein Bourgeois mit der Attitüde eines Cyberpunks, führt die Spiegel-Leserschaft als Erklärbär durch die Weiten des Internets und der virtuellen Welten. Dass nun ausgerechnet R. Winkler Lobos Aufmerksamkeit gefunden hat, überrascht dann aber doch.


Seine Einlassungen zum sog. "Drachenlord" verdienen m.E. unbedingt der näheren Betrachtung, weil sich S. Lobo als ein äußerst manipulativer und geschickter Falschspieler erweist, der möglicherweise weit mehr im Schilde führt als es bei oberflächlicher Betrachtungsweise den Anschein hat.


Aber der Reihe nach. Ich werde zunächst einmal die Argumentationslinie von S. Lobos Spiegel-Online-Veröffentlichung nachzeichnen:


Aufgemacht ist sein Meinungsbeitrag damit, dass es sich im Fall des sog. "Drachenlord" um ein in der BRD von niemandem aufgehaltenes "Martyrium" handele.


S. Lobo wirft der Justiz vor, sich in Gestalt einer Staatsanwältin und einer Richterin "faktisch an die Spitze eines hochorganisierten Internetmobs gesetzt" zu haben. Diese Meute sei hinter jemanden her, der eigentlich nichts Ungewöhnliches mache und sein Geld damit verdiene, "einige Facetten seines Lebens ins Netz zu stellen". Und weiter heißt es: "Weil er ist, wie er ist, und wagt, sich in der Netzöffentlichkeit zu zeigen, wird er seit 2013 ausnahmslos jeden Tag von einem Zehntausende Menschen starken Hassmob gequält." Bei R. Winkler handele es sich um ein einzelnes Opfer, das immer wieder von tausenden Tätern verfolgt werde. Dabei schaue ihm ungeheuerlicher Weise ein Millionenpublikum belustigt zu. Es handele sich bei all dem um "die extremste Form des Cybermobbing in Deutschland". Der Staat habe es nicht nur versäumt, R. Winkler zu schützen, nein, er, so S. Lobo, mobbe selbst kräftig mit. Die Diagnose des Spiegel-Internetsachverständigen ist denn an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen, wenn er eine "katastrophale Versagensgeschichte der digitalen Gesellschaft, verantwortet von Medien, Politik, Exekutive, Jurisdiktion und dem Publikum" diagnostiziert.


Die Liste der teilweise strafwürdigen Angriffe auf den sog. "Drachenlord" ist lang und S. Lobo führt folgende Punkte auf: Beleidigungen, Bedrohungen, Herabwürdigungen, Attacken auf das Haus von R. Winkler, Fake-Bestellungen, tätliche Angriffe, Beleidigungen und Schmähungen von Familienangehörigen, eine Grabschändung, gezielte Provokationen verschiedenster Art, die ihn zu unbedachten Reaktionen veranlassen sollen, die dann wiederum von seinen Widersachern ins Netz gestellt würden. R. Winkler werde ohne jeden Ausweg für ihn tagein, tagaus gequält.


Relativ ausführlich schildert S. Lobo eine Begebenheit, die über die sozialen Netzwerke hinaus Aufmerksamkeit gefunden hat. R. Winkler hatte sich online in eine junge Frau verliebt, die dessen Avancen eine Zeitlang scheinbar erwiderte. Als der sog. "Drachenlord" dieser schließlich coram publico einen Heiratsantrag unterbreitete, lehnte sie diesen nicht nur ab, sondern bezeichnete Winkler - zum Gefallen des "Mobs", vom sog. "Drachenlord" auch "Hater" genannt - zudem als dickleibigen Idioten.


Resümierend kritisiert S. Lobo "die Medien" dafür, R. Winkler unterstellt zu haben, all das, was diesem durch "die Hater", eine Gruppe "faschistoide(r) Menschenfeinde", widerfahren sei, selbst so gewollt zu haben. Tatsächlich, so Lobo, habe dieser nie eine andere Wahl gehabt, als sich unter Anwendung von Gewalt zur Wehr zu setzen, denn das Ziel des Hater-Spiels habe darin bestanden, ihn "in den Selbstmord zu treiben". 


S. Lobo macht sich zum uneingeschränkten Fürsprecher R. Winklers und konstatiert ein katastrophales Versagen von Justiz, Medien und Gesellschaft, denen er vorwirft, "eine der schlimmsten Opferverhöhnungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" begangen zu haben: ein unwissender und zynischer Staat als Mit-Mobber sozusagen, der dem Hassmob nichts entgegenzusetzen habe.


Eine Frage drängt sich abschließend auf: Gäbe es für R. Winkler nicht einfach die Möglichkeit, sich aus den Social Media zurückzuziehen und die Kunstfigur "Drachenlord" ad acta zu legen? Internet-Guru S. Lobo erteilt diesen naheliegenden Rat nun gerade nicht. Er schreibt: "Winkler verdient sein Geld mit seinen Netzauftritten, er kann nichts anderes. Das aufzugeben, würde ihn ins Nichts stürzen." Das wäre ungefähr so, fährt Lobo fort, "als würde man einem Opfer häufiger Raubüberfälle vorschlagen, einfach nicht mehr zur Arbeit zu gehen, damit die Raubüberfälle aufhören."


Wenn ein meinungsstarkes Medium wie DER SPIEGEL das soziale Problem "Mobbing" thematisiert und in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit rückt, ist dies nur allzu berechtigt und notwendig. Dass S. Lobo allerdings ausgerechnet den sog. "Drachenlord" als paradigmatisches Fallbeispiel heranführt, wird der Bedeutung dieses sozialen Problems in keiner Weise gerecht.


R. Winkler hat sich dazu entschlossen, sich in die Arena der Social Media zu begeben. Durch diese Arena führen keine glatt gepflasterten Boulevards, auf denen Stars und Sternchen flanieren. Die Pflaster der Seitenstraßen sozialer Medien sind rau, der Umgangston ist eher ungehobelt, man sagt jemandem etwas nicht ins Gesicht, sondern direkt "in die Fresse". 


Und genau in dieser Arena trachtet R. Winkler sich zu behaupten. Es wird ausgeteilt und eingesteckt, provoziert und reagiert. Dass ausgerechnet der Internetversteher S. Lobo dieses Geschäftsmodell des wechselseitigen Anstachelns, im Falle R. Winklers und seinen "Hatern" auch "Drachen-Game" genannt, mit und durch "Reactions" mit Mobbing verwechselt, verwundert mich sehr.


Um es klar zu sagen: Der sog. "Drachenlord" ist ganz sicher kein Mobbing-Opfer. Vielmehr geriert sich diese Social-Media-Figur als ein solches, um möglichst viel Profit aus der eingenommen Opferrolle zu schlagen. Extreme Formen des Cybermobbing finden in der BRD wahrscheinlich tausendfach tagtäglich gerade nicht vor einem Millionenpublikum statt. Sie geschehen immer wieder unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle. Ausgerechnet R. Winkler, der monatlich mehrere Tausend Euro von seinen Followern dafür erhält, sein "Martyrium" zu inszenieren, gleichsam zum Anwalt von jungen Menschen zu machen, die tatsächlich Mobbingangriffen ausgesetzt sind, verdreht die Tatsachen eklatant. S. Lobo wird dem Thema nicht nur nicht gerecht, nein, er verhöhnt die tatsächlich Betroffenen obendrein noch.


Am Rande sei angemerkt, dass die von S. Lobo als Beispiel für des "Drachenlords" Martyrium herangeführte Episode des gescheiterten Heiratsantrags sich auch ganz anders lesen lässt. Wie viele junge Frauen müssen sich immer wieder in Internet-Chats widerlichen Nachstellungen weit älterer männlicher User aussetzen? Ist es nicht eher ein Zeichen von widerständiger Stärke und Empowerment, wenn solcherlei Sexting offensiv begegnet wird?


Völlig absurd wird S. Lobos Verteidigung des sog. "Drachenlords", wenn er den jederzeit möglichen Rückzug R. Winklers aus dem Internet als ein Ding der Unmöglichkeit mit dem Argument vom Tisch wischt, dieser könne ja nichts anderes, sei also auf Gedeih und Verderb an den Gaming-Stuhl gefesselt. Einmal abgesehen davon, dass dies in Anbetracht der Fülle bestehender biografischer Entfaltungsmöglichkeiten völliger Unsinn ist, bestärkt der Spiegel-Meinungsmacher einen Menschen darin, einen Weg weiter zu verfolgen, von dem angenommen werden kann, dass dieser über kurz oder lang in den Abgrund führen wird. Der inzwischen 34-jährige R. Winkler wird mit jedem Jahr, das er bettelnd und schnorrend auf Social-Media-Kanälen verbringt, immer weniger in der Lage sein, einen Ausweg aus dieser Abhängigkeit zu finden. Indem S. Lobo den sog. "Drachenlord" darin bestärkt, sich selbst tagtäglich als "Mobbing-Opfer" zu inszenieren, führt er damit einen Abhängigen nur immer weiter in die Abgründe der Sucht. Verantwortungsvoll ist solcherlei Co-Abhängigkeit niemals!


Ich möchte vermuten, dass sich S. Lobo über diese Zusammenhänge auch vollkommen im Klaren ist. Was könnte ihn also dazu bewegen, sich zum Fürsprecher des "Drachenlord" zu machen?


Die Antwort liegt in der kühlen Profitlogik des Mediensystems. Ich möchte behaupten, dass es sich beim sog. "Drachenlord" um eine der bestdokumentierten Biografien in der BRD handelt. Das gestreamte Material in Gänze zu sichten würde wohl locker ganze Wochen Zeit beanspruchen. Eine Fundgrube also für einen Mediendeal: Wie wäre es mit einer Thematisierung von Mobbing am Beispiel von R. Winkler im Serienformat? Erste Ansätze dazu in herkömmlichen Medien hat es bereits gegeben. Hier vermute ich denn auch die wahre Intention S. Lobos: Der sog. "Drachenlord" möge seine Mobbing-Inszenierung unbedingt fortsetzen. Käme es zu einer umfangreichen medialen Verwertung dieser, so hätte S. Lobo sozusagen "den Fuß mit in der Tür". Kreative Manipulatoren und schreibende Hochstapler vom Schlage eines Claas Relotius und Fabian Wolff gibt es gewiss zuhauf. DER SPIEGEL und viele andere deutschsprachige "Leitmedien" wissen ein Lied davon zu singen. Ob sie daraus Lehren ziehen, dürfte bezweifelt werden. Spätestens dann, wenn etwa eine Überschrift lauten könnte: "Der Drachenlord. Eine der schlimmsten Opferverhöhnungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" sollte man wissen, dass mit der banalen Wahrheit kreativ Schindluder getrieben würde.



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Freitag, 24. Februar 2023

Steffen Roski: Zur Soziologie der Stiftung - eine Arbeitsskizze

In den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften des europäischen Hochmittelalters bildeten sich auf der Grundlage eines im Grundsatz zu erhaltenen Geldvermögens Stiftungen, also körperschaftsähnliche Vereinigungen von Geistlichen, die sowohl nach kirchlichem als auch nach weltlichem Recht Autonomie beanspruchen konnten, heraus, um bestimmte Zwecke dauerhaft zu verfolgen. Nutznießer solcher Stiftungen waren vor allem Kirchengemeinden und Klöster, die im Gegenzug dem Stifter zu Messen zugunsten seines Heils verpflichtet waren. Zweck, Vermögen und Organisation sind von Anbeginn an die konstitutiven Merkmale der Stiftung als sozialer Form. In globalhistorischer Betrachtung lässt sich das Auftreten von Stiftungen weltweit wohl mit dem Auftreten landwirtschaftlicher Überproduktion in so verschiedenen Regionen wie Mesopotamien,  Ägypten und Südamerika vermuten. 

Im Zuge des Übergangs von der strikt ständisch differenzierten zur funktional differenzierten Gesellschaft der frühen Neuzeit wird das Monopol des kirchlich-katholischen Stiftungswesens sukzessive durch bürgerliche Stiftungsgründungen infrage gestellt und im Laufe der Reformation in den meisten protestantischen Landesteilen zerschlagen. Eine Renaissance des Stiftungswesens lässt sich erst vor dem Hintergrund zunehmend autonomer staatlich-politischer und ökonomischer Sphären sowie einem Strukturwandel der Öffentlichkeit hin zu einer selbstbewussten Zivilgesellschaft feststellen. Auf die vermehrten philanthropischen Stiftungsgründungen z.B. in den Bereichen von Wissenschaft und Kunst reagierte das positive Recht mit der Figur der staatlich genehmigten rechtsfähigen Stiftung, während im anglo-amerikanischen Rechtskreis das Institut des „charitable trust“ bestimmend blieb.

Vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und der Geldvernichtung im Zuge der Hyperinflation wurde das deutsche Stiftungswesen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast zur Gänze eliminiert und konnte erst seit den 1950er und 1960er Jahren wieder regeneriert werden. Zunehmender ökonomischer Wohlstand sowie eine begünstigende politische Reformgesetzgebung haben Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass in Deutschland im Jahr 2018 ca. 22.000 rechtsfähige Stiftungen verzeichnet werden konnten.
Wiewohl ich in meinem Dissertationsvorhaben das Wirken von Stiftungen in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr 2001 (mit dem Epochenbruch des 11.9.) in verschiedenen Feldern des politischen Systems (policies) untersuchen möchte, ist zunächst eine genauere Betrachtung des geschichtlichen Grundbegriffs „Stiftung“ geboten. Im Sinne des Luhmannschen Forschungsprogramms, das in „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ sowie in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ ausgearbeitet vorliegt, erscheint mir die Betrachtung der Genese von Stiftung als einer spezifischen sozialen Form gewinnbringend zu sein.

Vor dem Hintergrund dieses gesellschaftsstrukturell-wissenssoziologischen Programms soll von vornhinein eine Verengung der Betrachtung der sozialen Form „Stiftung“ als rein organisationssoziologischem Phänomen vermieden werden. Es geht mir gerade um den Zusammenhang von Organisation und Gesellschaft und die Frage danach, wie Stiftungsorganisationen „den gesellschaftlichen Umgang mit sozialen Problemen und aktuellen Herausforderungen formen.“ (Arnold, Hasse & Mormann 2022, S. 419) Zivilgesellschaftlich hat nämlich insbesondere das Aufkommen großer unternehmensverbundener Stiftungen eine Diskussion über die gesellschaftliche Funktion von Stiftungen ausgelöst. Diese aktuellen Debatten in Politik und Zivilgesellschaft sollen nachgezeichnet und durch Beispiele des Stiftungshandelns in verschiedenen Politikfeldern konturiert werden.
Zuspitzen lässt sich folgende soziologisch-theoretische Fragestellung: Leisten Stiftungen als treuhänderischer Akteur in der „Civil Sphere“ (Jeffrey C. Alexander) einen unverzichtbaren Beitrag zur Etablierung einer gerechten sozialen Ordnung (Talcott Parsons & Gerald M. Platt)? Oder aber erscheinen Stiftungen ganz im Sinne des kulturell ausgedeuteten Marxismus Antonio Gramscis als hegemonialer gesellschaftlicher Akteur, der das noch immer dominierende neoliberale Akkumulationsregime zu stützen hilft. Stiftungen wären dann im Sinne einer „Radikalen Demokratietheorie“ (Ernesto Laclau & Chantal Mouffe) wohl eher kritisch zu sehen. Wahrscheinlich werden beide Positionen, die parsonianische als auch die radikal-demokratietheoretische, Licht auf das komplexe Wechselverhältnis von Stiftungsorganisationen und moderner Gesellschaft werfen helfen.

Literatur:

Jeffrey C. Alexander (2006): The Civil Sphere, Oxford & New York: Oxford University Press 
Nadine Arnold, Raimund Hasse & Hannah Mormann (2022): Editorial, in: dies. (Hrsg.), Organisationsgesellschaft „reloaded“ (Sonderheft „Soziale Welt“ 3/2022), S. 419-424
Thomas Biebricher (2021): Die politische Theorie des Neoliberalismus, Berlin: Suhrkamp 
Antonio Gramsci (2012-2019): Gefängnishefte, Hamburg: Argument (Hrsg. v. Klaus Bochmann & Wolfgang Fritz Haug, Übersetzt v. Ruedi Graf, Peter Jehle, Gerhard Kuck, Joachim Meinert & Leonie Schroeder)
Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp (Neuauflage)
Rainer Hüttemann (2023): Stiftung (Version 08.06.2022, 09:10 Uhr), in: Staatslexikon online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Stiftung (abgerufen 05.02.2023)
Ernesto Laclau & Chantal Mouffe (2015): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen-Verlag (Hrsg. u. übersetzt v. Michael Hintz & Gerd Vorwallner, 5. Auflage)
Niklas Luhmann (2018): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp (2 Teilbände, 10. Auflage)
Talcott Parsons & Gerald M. Platt (1990): Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt/M.: Suhrkamp (Übersetzt v. Michael Bischoff)







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Dienstag, 24. Mai 2022

Steffen Roski: Aus der Praxis von Dialog in Deutsch


Auf den Internetseiten der Hamburger Bücherhallen beschreibt sich das interkulturelle Sprachangebot "Dialog in Deutsch" (DiD) selbst durch folgende Merkmale: Das Angebot ist  öffentlich, kostenlos, versteht sich als politisch und religiös-weltanschaulich neutral, bietet Bildungsinhalte, nutzt die vielfältigen Kompetenzen in den Bereichen Wissen, Sprache und Medien der Hamburger Bücherhallen sowie deren bibliothekarischen Fachpersonals. Jede DiD-Gruppenstunde ist eine Übung in Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen und Lebenswelten.


Der Rahmen der Gruppenstunden ist geschützt, die Teilnehmenden finden mit ihren jeweiligen Sprachniveaus Zugang, d. h. jede*r Ankommende wird angenommen. Im Kern geht es um einen lebensweltlich-praktischen Umgang mit Sprache in einem Kontext multi-ethnischer Vielfalt. Im Vordergrund steht, Raum und Möglichkeit für Gespräch, 

Austausch, Kontaktaufnahme und Informationen für diejenigen zu bieten, die ihre erlernten Deutschkenntnisse praktisch anwenden wollen. Die DiD-Gruppengespräche sollen dazu beitragen, dass Teilnehmende sich sicherer der alltäglichen Lebenspraxis und dem gesellschaftlichen Miteinander stellen können.


Getragen wird DiD von der engagierten Zusammenarbeit von hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der Bücherhallen Hamburg. Seit vielen Jahren ist auch der Autor in den Räumen der Hamburger Zentralbibliothek am Hühnerposten für DiD als Gruppenleiter aktiv. Mir geht es im Folgenden darum, einen Einblick in den konkreten Ablauf von DiD-Gruppenstunden, also einen Blick in die DiD-Praxis aus der individuellen Perspektive eines Ehrenamtlichen zu geben.


Im Folgenden möchte ich zunächst die Sequenz einer DiD-Gruppenstunde skizzieren, so wie sich dies für mich Woche für Woche darstellt. Abschließend sollen einige wenige sozialtheoretische Überlegungen das Dialog-in-Deutsch-Projekt in einen wissenschaftlich-gesellschaftlichen Kontext rücken.


"Du" oder "Sie"


Nachdem die Teilnehmenden Platz genommen haben und somit angekommen sind, stellt sich zuerst die Frage, ob das "Du" oder die "Sie"-Form im Verlauf der Stunde verwendet werden sollen. Meist präferieren die Teilnehmenden das "Du", insbesondere dann, wenn vorwiegend junge Erwachsene in der Mehrzahl sind. Doch lohnt es sich, das Thema Nähe und Distanz in der Wahl der Anredeform zum Gegenstand des Dialogs zu machen, was insbesondere dann geboten ist, wenn es in der Stunde etwa darum geht, darüber zu reden, worauf es ankommt, wenn ein Termin in einer offiziellen Einrichtung (Behörde, Arbeitsagentur, Jobcenter etc.) wahrzunehmen ist. Auch thematisiert werden könnten die diversen Schattierungen des "Du": welcher Unterschied besteht etwa zwischen dieser Anrede in der DiD-Gruppenstunde und ihrer Verwendung in Freundschafts- oder Intimbeziehungen. Auf jeden Fall erscheint mir wichtig, diese Frage zu Beginn jeder Stunde zu erörtern.


Überblick über den Verlauf der DiD-Gruppenstunde


Nachdem die Anredeform besprochen und gemeinsam vereinbart worden ist, gebe ich in knapper Form einen Überblick über den Verlauf der DiD-Gruppenstunde: ["Wir beginnen die Stunde mit einer Vorstellungsrunde, überlegen dann, worüber wir heute miteinander sprechen wollen, treten dann in den Dialog ein und beenden die Stunde mit einer Abschluss- oder Feedbackrunde."] Diese Struktur der DiD-Gruppenstunde erscheint zudem visuell auf dem Smartboard, wobei ich auf Wunsch von Teilnehmenden mir angewöhnt habe, bei Nomen stets auch den Artikel hinzuzufügen, sodass folgender Text erscheint: ["Willkommen zu 'Dialog in Deutsch': (1) (die) Vorstellungsrunde, (2) Themen finden, (3) (der) Dialog, (4) (die) Abschluss- oder Feedbackrunde"] Die Vorgabe dieser Grundstruktur ist allgemein genug, um in allen vier Phasen den Teilnehmenden größtmögliche Partizipationsräume zu eröffnen, dabei ist sie zugleich so präzise, dass der Ablauf der DiD-Gruppenstunde klar und transparent gemacht werden kann.


Die Vorstellungsrunde


Ein wichtiger Anker jeder DiD-Gruppenstunde stellt die Vorstellungsrunde dar. Sie bietet gleich zum Einstieg in den Gruppenprozess den Teilnehmenden je individuell die Möglichkeit, sich selbst den anderen zu präsentieren. Als Gruppenleitung beginne ich oft damit, mich selbst den Teilnehmenden vorzustellen und damit ein Muster vorzuschlagen, auf das Teilnehmende zurückgreifen können, die sich möglicherweise sprachlich noch etwas unsicher fühlen: ["Mein Name ist Steffen, ich bin 56 Jahre alt, lebe seit 10 Jahren in Hamburg, bin geschieden und habe einen Sohn, der in Köln studiert."] Der Vorstellungsrunde sollte auf jeden Fall so viel Zeit eingeräumt werden, dass alle Teilnehmenden ohne Druck etwas Persönliches von sich preisgeben können und sei es nur der Vorname und das Alter. Zumeist jedoch erwähnen die Teilnehmenden auch das Land ihrer Herkunft, was natürlich etwas Zentrales über die je eigene Identität zum Ausdruck bringt. Selbstverständlich mag sich bereits aus der Vorstellungsrunde ein Thema für den folgenden Dialog ergeben, was insbesondere dann der Fall ist, wenn in die Selbstpräsentation etwa Hobbys oder sonstige Aktivitäten Eingang finden. 


Themen finden


Zuweilen kann die Themenfindung eine Hürde in der DiD-Gruppenstunde darstellen. Für mich gilt folgende Faustregel: Eigene Gesprächsimpulse werden denjenigen von Teilnehmenden nachgeordnet. Anders ausgedrückt: Je mehr Gesprächsofferten aus dem Kreis der Teilnehmenden, desto besser! Und natürlich gibt es eine große Vielfalt solcher Impulse: Teilnehmende mögen z.B. nach einem Wort oder eine ihnen im Alltag begegnende Äußerung fragen, dessen oder deren Bedeutung unklar ist. Durchaus nicht ungewöhnlich ist es, wenn auf die Frage nach einem Themenvorschlag - aus welchen Gründen auch immer - nicht sogleich eine Reaktion aus der DiD-Gruppe kommt. Das ist erst einmal gar nicht so schlimm, weil ja in einer solchen Schweigephase bei den meisten Teilnehmenden eine Reflexion zustande kommt. Pausen und Gesprächsunterbrechungen erzeugen oft unnötigerweise bei der Gruppenleitung eine innere Unruhe. Es lohnt sich aber, dies der Gruppe gegenüber offen zu artikulieren, weil damit dann möglicherweise schon ein Thema der DiD-Gruppenstunde gefunden worden ist: ["Wenn sich Menschen, die sich nicht gut kennen, treffen, wissen sie manchmal nicht, worüber sie reden sollen. Woran kann das liegen?"] 


Der Dialog


Um an die gerade gestellte Frage anzuknüpfen: vielleicht ergibt sich ja bei der Themenfindung, dass Leute bloß übers Wetter reden, um überhaupt ein Gespräch miteinander zustande zu bringen. Nun, dann redet die DiD-Gruppe eben übers Wetter, warum denn auch nicht? Leicht ließe sich da ein Hamburg-Bezug herstellen. Auf dem Smartboard könnte etwa erscheinen: ["Hamburger sagen in der Umgangssprache manchmal: 'Dieses Schietwetter kann ich nich ab'."] Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich daraufhin ganz zwanglos ein DiD-Gruppengespräch entspannen wird. Sollte sich das Thema ["Wetter"] inhaltlich erschöpft haben, lässt sich dessen sprachliches Potenzial im Weiteren nutzen: ["In formaler Sprache würde man sagen: 'Wenn das Wetter dauernd schlecht ist, dann mag ich das nicht.'"] Ich bin immer wieder überrascht, wie rasant eine DiD-Gruppenstunde vorüber geht. Das Einkuppeln einer sprachlichen Referenzebene - das kann, wie im Beispiel, eine formalsprachliche Übersetzung eines alltagssprachlichen Ausdrucks sein; denkbar wäre auch die Erläuterung einer grammatischen Struktur oder Grundregel etc. - erlaubt, das thematisch-inhaltlich Diskutierte im komplexen Gewebe der Sprache zu verankern. 


Die Abschluss- oder Feedbackrunde 


Je nach Teilnehmendenzahl räume ich zum Ende der DiD-Gruppenstunde genügend Zeit für eine Rückmeldung ein: ["Wie hat dir die heutige Stunde gefallen?"] Die Abschluss- oder Feedbackrunde gibt den Teilnehmenden die Möglichkeit, rückzumelden, was sie gegebenenfalls aus der Stunde mitgenommen haben. Gab es Kritisches anzumerken? Hat sich die Gruppenleitung klar und verständlich ausgedrückt? Somit ist für mich diese letzte Phase der DiD-Gruppenstunde zugleich der Einstieg in die Reflexion und Selbstevaluation. Beispielsweise habe ich aus einer solchen Abschluss- oder Feedbackrunde die Anregung mitgenommen, Nomen nicht isoliert anzuschreiben, sondern stets den ihnen zugehörigen bestimmten Artikel hinzuzufügen. Eine gute Anregung, wie ich finde!


Sozialtheorie und Dialog in Deutsch 


Gewiss, Dialog-in-Deutsch genügt sich so wie das Projekt konzipiert ist, völlig selbst. Dennoch mag es erhellend sein, die Praxis der DiD-Gruppenstunde in den Kontext gegenwärtiger sozialtheoretischer Debatten zu stellen. Als Ausgangspunkt dient mir dabei folgende Publikation: [Bruno Latour, An Inquiry into Modes of Existence. An Anthropology of the Moderns, Cambridge, Mass.: Harvard UP, 2013] 


Folgende Gesichtspunkte erscheinen mir dabei interessant:


  1. DiD ist ohne Anbindung an eine Organisation [ORG] gar nicht denkbar. Die Bücherhallen Hamburg bieten allein in der Zentralbibliothek über 28.000 Medien in über 27 Sprachen und halten mehr als 7.000 Zeitschriften und Zeitungen aus über 100 Ländern in mehr als 60 Sprachen vor. Dazu kommen vielfältige eLearning- und Online-Sprachkurse, Streaming-Angebote, eBooks, Lehrmaterialien für "Deutsch als Zweitsprache" etc. Die Welt des Wissens, der Bildung und der Wissenschaft [REF] ist entweder physisch oder via Doppelklick [DK] verfügbar. In der Zentralbibliothek steht darüber hinaus ein offenes WLAN zur Verfügung, das die Teilnehmenden der DiD-Gruppenstunden über ihre Smartphones [DK] gern nutzen. Ein Smartboard erlaubt der Gruppenleitung auf das Internet [DK] zuzugreifen und Ergebnisse von Recherchen zu visualisieren und gegebenenfalls weiter zu be- und verarbeiten. DiD stellt somit ein Interaktionsgeschehen im Rahmen eines organisierten Sozialsystems [ORG] dar. Die in diesem Kontext gemachten Erfahrungen fließen wiederum in verschiedenste gesellschaftliche Zusammenhänge ein, wofür der vorliegende Text selbst wiederum ein Beispiel darstellt. Und alles Gesellschaftliche wiederum kann Woche für Woche Thema der DiD-Gruppenstunden werden [Interaktion|Organisation|Gesellschaft; Niklas Luhmann]. Dialog in Deutsch veranschaulicht die Dualität von Handlung einerseits und Struktur andererseits auf sinnfällige Weise [Theorie der Strukturation; Anthony Giddens].

  2. Nicht vergessen werden sollte, dass ein Projekt wie DiD für Menschen, die eine öffentliche Bibliothek [ORG, REF] eher nicht oder sehr selten betreten, eine Art Türöffner darstellen kann. In der Sprache Latours: Der Strom der Gewohnheiten [GEW] wird mit dem Betreten der Bibliothek [ORG, REF], dem Eintritt in den DiD-Gruppenraum und der folgenden Teilnahme an der DiD-Gruppenstunde unterbrochen, was sich bei den Teilnehmenden bemerkbar macht ["Hiatus"]. Die DiD-Gruppenstunde wiederum stellt einen sinnhaften Handlungsverlauf dar, der über riskante Diskontinuitäten hinweg - als Beispiel sei das Finden eines geeigneten Gesprächsthemas (s.o.) genannt - eine wertorientierte Kontinuität erlangt ["Trajektorie"]. Eine DiD-Gruppenstunde ergibt idealerweise einen gerichteten Handlungsbogen (s.d. was oben über den Ablauf der DiD-Gruppenstunde gesagt worden ist), der anhand von spezifischen Maßstäben geprüft und bewertet wird. Dies geschieht am Ende einer jeden DiD-Gruppenstunde in der Abschluss- oder Feedbackrunde ["Gelingens- und Misslingensbedingungen"].

  3. Insgesamt stellt eine DiD-Gruppenstunde einen spezifischen Wertschöpfungsprozess dar und bringt im Erfolgsfall Entitäten ["zu instaurierende Wesen"] hervor, die von den Teilnehmenden und Gruppenleitungen in ihre jeweiligen Lebenswelten mitgenommen werden können und die ohne die Teilnahme an einer DiD-Gruppe so nicht zustande gekommen wären. Dies können z.B. neue Gewohnheiten [GEW], Informationen aus Politik [POL], Recht [LAW] und Religion [REL] sein. Auch ist denkbar, dass Attachments oder Bindungen [BIN] über die Teilnahme an Dialog in Deutsch entstehen und moralische Codes [MOR], Werte und Normen in Frage gestellt, vielleicht gar modifiziert werden. Jedenfalls ist nicht ausgeschlossen, dass die Teilnahme an einer DiD-Gruppenstunde die jeweiligen Lebenswelten auf eine bestimmte Weise verändern und ergänzen mögen ["Alterierung"], indem (1) Handlungen koordiniert werden, (2) Figuren erfunden [FIK] oder (3) Bindungen [BIN] hergestellt werden. [Beispiel für (1): Wie finde ich mich in Hamburgs ÖPNV zurecht?; Beispiel für (2): In der DiD-Gruppenstunde wurde über Aschenputtel gesprochen; Beispiel für (3): Ich habe über DiD eine*n Kunstinteressierte*n kennengelernt und es geht gemeinsam kommende Woche in die Sammlung Falckenberg]

  4. Insgesamt lässt sich am Projekt Dialog in Deutsch der Charakter eines Netzwerks [NET] auf sinnfällige Weise exemplifizieren: selbst ein Netzwerk [NET] im Kontext der Organisationsstruktur [ORG, REF] Bücherhallen trägt DiD Woche für Woche durch gerichtete Vernetzungsvorgänge (DiD-Gruppenstunden) zur Entfaltung vielfältiger Netzwerke [NET] in den diversen Lebenswelten der an DiD Teilnehmenden bei. Und diese Vielfalt an Netzwerken [NET] wiederum wirkt stets aufs Neue und in oft überraschender Weise zurück auf jede DiD-Gruppenstunde.









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