Mittwoch, 1. August 2012

Kurt Drawert: Der entrissene Text IX und X

Ein Fragmentbewusstsein hat die Moderne seit Ende des 18. Jahrhunderts ausgebildet (wovon Karl Philipp Moritz in seinem <Anton Reiser> sehr eindrucksvoll spricht). Aber die Potenzierung des Fragmentarischen durch die Maschine ist für einen Dichter von heute nur skandalös. Die        (Rest-)Entwertung der Zeichen, wie sie die Maschine produziert, wird in der Literatur zu einem Verhängnis. Es werden ja jetzt schon SMS-Romane über den Provider getickert, und allein der gütige Herr weiss, was daran noch <Roman> sein könnte. Über das todschicke E-Book, das ich noch nicht ein einziges Mal in der Hand hielt, brauchen wir jetzt nicht mehr zu reden. Es nimmt dem Lesen jede Erotik und ist so kalt wie ein Schlachthof im Winter. Dass es klein ist und in die Handtasche passt - nun ja, das schafft ein Kieselstein auch.
Wir befinden uns, und das rundet den Gedanken jetzt ab, in einem Radikalpositivismus, der jede Energie, die auf metaphysische Objekte gerichtet ist, ausschaltet. Das ist ein Angriff auf unsere symbolische Welt, die von einem blinden Realismus - man könnte auch sagen, vom Realen an sich - heimgesucht wird. Der Sieg der Biologie über die Psychologie ist auch ein Sieg des fundamentalen Materialismus. Alles, was wir im Kontext des Schreibens, der Poesie und der Kunst diskutieren, ist eingespeist in diese Dramatik. Denn es ist absehbar, dass die Techniker ihre Produkte durchsetzen, durch die wir andere werden - und schon andere sind.
(Aus: Neue Zürcher Zeitung, 21. Juli 2012, S. 21)


Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Sie sind herzlich zu Kommentaren aufgefordert und eingeladen!