In den stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften des europäischen Hochmittelalters bildeten sich auf der Grundlage eines im Grundsatz zu erhaltenen Geldvermögens Stiftungen, also körperschaftsähnliche Vereinigungen von Geistlichen, die sowohl nach kirchlichem als auch nach weltlichem Recht Autonomie beanspruchen konnten, heraus, um bestimmte Zwecke dauerhaft zu verfolgen. Nutznießer solcher Stiftungen waren vor allem Kirchengemeinden und Klöster, die im Gegenzug dem Stifter zu Messen zugunsten seines Heils verpflichtet waren. Zweck, Vermögen und Organisation sind von Anbeginn an die konstitutiven Merkmale der Stiftung als sozialer Form. In globalhistorischer Betrachtung lässt sich das Auftreten von Stiftungen weltweit wohl mit dem Auftreten landwirtschaftlicher Überproduktion in so verschiedenen Regionen wie Mesopotamien, Ägypten und Südamerika vermuten.
Im Zuge des Übergangs von der strikt ständisch differenzierten zur funktional differenzierten Gesellschaft der frühen Neuzeit wird das Monopol des kirchlich-katholischen Stiftungswesens sukzessive durch bürgerliche Stiftungsgründungen infrage gestellt und im Laufe der Reformation in den meisten protestantischen Landesteilen zerschlagen. Eine Renaissance des Stiftungswesens lässt sich erst vor dem Hintergrund zunehmend autonomer staatlich-politischer und ökonomischer Sphären sowie einem Strukturwandel der Öffentlichkeit hin zu einer selbstbewussten Zivilgesellschaft feststellen. Auf die vermehrten philanthropischen Stiftungsgründungen z.B. in den Bereichen von Wissenschaft und Kunst reagierte das positive Recht mit der Figur der staatlich genehmigten rechtsfähigen Stiftung, während im anglo-amerikanischen Rechtskreis das Institut des „charitable trust“ bestimmend blieb.
Vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und der Geldvernichtung im Zuge der Hyperinflation wurde das deutsche Stiftungswesen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast zur Gänze eliminiert und konnte erst seit den 1950er und 1960er Jahren wieder regeneriert werden. Zunehmender ökonomischer Wohlstand sowie eine begünstigende politische Reformgesetzgebung haben Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass in Deutschland im Jahr 2018 ca. 22.000 rechtsfähige Stiftungen verzeichnet werden konnten.
Wiewohl ich in meinem Dissertationsvorhaben das Wirken von Stiftungen in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Jahr 2001 (mit dem Epochenbruch des 11.9.) in verschiedenen Feldern des politischen Systems (policies) untersuchen möchte, ist zunächst eine genauere Betrachtung des geschichtlichen Grundbegriffs „Stiftung“ geboten. Im Sinne des Luhmannschen Forschungsprogramms, das in „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ sowie in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ ausgearbeitet vorliegt, erscheint mir die Betrachtung der Genese von Stiftung als einer spezifischen sozialen Form gewinnbringend zu sein.
Vor dem Hintergrund dieses gesellschaftsstrukturell-wissenssoziologischen Programms soll von vornhinein eine Verengung der Betrachtung der sozialen Form „Stiftung“ als rein organisationssoziologischem Phänomen vermieden werden. Es geht mir gerade um den Zusammenhang von Organisation und Gesellschaft und die Frage danach, wie Stiftungsorganisationen „den gesellschaftlichen Umgang mit sozialen Problemen und aktuellen Herausforderungen formen.“ (Arnold, Hasse & Mormann 2022, S. 419) Zivilgesellschaftlich hat nämlich insbesondere das Aufkommen großer unternehmensverbundener Stiftungen eine Diskussion über die gesellschaftliche Funktion von Stiftungen ausgelöst. Diese aktuellen Debatten in Politik und Zivilgesellschaft sollen nachgezeichnet und durch Beispiele des Stiftungshandelns in verschiedenen Politikfeldern konturiert werden.
Zuspitzen lässt sich folgende soziologisch-theoretische Fragestellung: Leisten Stiftungen als treuhänderischer Akteur in der „Civil Sphere“ (Jeffrey C. Alexander) einen unverzichtbaren Beitrag zur Etablierung einer gerechten sozialen Ordnung (Talcott Parsons & Gerald M. Platt)? Oder aber erscheinen Stiftungen ganz im Sinne des kulturell ausgedeuteten Marxismus Antonio Gramscis als hegemonialer gesellschaftlicher Akteur, der das noch immer dominierende neoliberale Akkumulationsregime zu stützen hilft. Stiftungen wären dann im Sinne einer „Radikalen Demokratietheorie“ (Ernesto Laclau & Chantal Mouffe) wohl eher kritisch zu sehen. Wahrscheinlich werden beide Positionen, die parsonianische als auch die radikal-demokratietheoretische, Licht auf das komplexe Wechselverhältnis von Stiftungsorganisationen und moderner Gesellschaft werfen helfen.
Literatur:
Jeffrey C. Alexander (2006): The Civil Sphere, Oxford & New York: Oxford University Press
Nadine Arnold, Raimund Hasse & Hannah Mormann (2022): Editorial, in: dies. (Hrsg.), Organisationsgesellschaft „reloaded“ (Sonderheft „Soziale Welt“ 3/2022), S. 419-424
Thomas Biebricher (2021): Die politische Theorie des Neoliberalismus, Berlin: Suhrkamp
Antonio Gramsci (2012-2019): Gefängnishefte, Hamburg: Argument (Hrsg. v. Klaus Bochmann & Wolfgang Fritz Haug, Übersetzt v. Ruedi Graf, Peter Jehle, Gerhard Kuck, Joachim Meinert & Leonie Schroeder)
Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp (Neuauflage)
Rainer Hüttemann (2023): Stiftung (Version 08.06.2022, 09:10 Uhr), in: Staatslexikon online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Stiftung (abgerufen 05.02.2023)
Ernesto Laclau & Chantal Mouffe (2015): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen-Verlag (Hrsg. u. übersetzt v. Michael Hintz & Gerd Vorwallner, 5. Auflage)
Niklas Luhmann (2018): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp (2 Teilbände, 10. Auflage)
Talcott Parsons & Gerald M. Platt (1990): Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt/M.: Suhrkamp (Übersetzt v. Michael Bischoff)