Montag, 4. September 2023

Steffen Roski: Die Inszenierung des Social-Media-Syndroms "Drachenlord"

Wenn Sozialwissenschaftler über Medien forschen, beziehen sie sich in der Regel auf die geheiligte Sphäre des seriösen Journalismus mit seinen paradigmatischen Leitsternen wie SZ, F.A.Z., DIE ZEIT, DER SPIEGEL usw. Der Diskurs ist eingeübt, gepflegt, es wird feinsten Nuancen größte Beachtung geschenkt. Wir dürfen beobachten, wie die Forschung gerade die Facetten der "Causa Aiwanger" im Spiegelkabinett der Medienkritik detailreich analysiert.


Weit weniger Beachtung wird dagegen jenen trüben Social-Media-Gewässern gewidmet, in denen sich die auf ihren Gaming-Stühlen und abgewetzten Sofas lümmelnden mehr oder weniger professionellen Online-Bettler tummeln, die ihrem Publikum zu jeder Tages- und Nachtzeit ein wenig Kleingeld aus dem Kreuz zu leiern bestrebt sind. 


Hierarchisierte man die BRD-Medien pyramidal, so fände man an ihrer Spitze die sog. "Leitmedien" (FAZ, Spiegel & Co.) und ganz unten auf dem breiten Grund der Pyramide eben jene Bettel-Kanäle, von denen TikTok eine unrühmliche Prominenz erlangt hat.


Es gibt kaum Abstoßenderes als erwachsenen Menschen dabei zuzusehen, wie sie ihrer juvenilen Zuseherschaft etwas von ihrem Taschengeld abzupressen suchen, indem sie diese dazu auffordern zu "tippen, tippen, tippen, liken,  liken, liken". 


Zum Kreis jener Berufsbettler zählt auch der sog. "Drachenlord", bürgerlich Rainer Winkler. Gerichtsfest als "vermindert intelligent" eingestuft, stammelt sich dieser sprachlich unbeholfen und limitiert allabendlich mit breitem fränkischen Akzent durch zahlreiche Streams und "Live-Matches", um von seiner TikTok-Anhängerschaft, den sog. "Drachis",  seinen Lebensunterhalt zusammenzuschnorren.


Im Jahre 2021 wurde R. Winkler wegen gefährlicher Körperverletzung und anderer Straftaten rechtskräftig verurteilt.  Interessanterweise erregte der zu seiner Verurteilung führende Gerichtsprozess die Aufmerksamkeit ausgerechnet eines führenden BRD-Leitmediums. 


In Gestalt des Autoren und Internet-Strategieberaters Sascha Lobo widmete DER SPIEGEL im Jahre 2021 in seiner Online-Ausgabe einen Meinungsbeitrag zum sog. "Drachenlord". Lobo, ein Bourgeois mit der Attitüde eines Cyberpunks, führt die Spiegel-Leserschaft als Erklärbär durch die Weiten des Internets und der virtuellen Welten. Dass nun ausgerechnet R. Winkler Lobos Aufmerksamkeit gefunden hat, überrascht dann aber doch.


Seine Einlassungen zum sog. "Drachenlord" verdienen m.E. unbedingt der näheren Betrachtung, weil sich S. Lobo als ein äußerst manipulativer und geschickter Falschspieler erweist, der möglicherweise weit mehr im Schilde führt als es bei oberflächlicher Betrachtungsweise den Anschein hat.


Aber der Reihe nach. Ich werde zunächst einmal die Argumentationslinie von S. Lobos Spiegel-Online-Veröffentlichung nachzeichnen:


Aufgemacht ist sein Meinungsbeitrag damit, dass es sich im Fall des sog. "Drachenlord" um ein in der BRD von niemandem aufgehaltenes "Martyrium" handele.


S. Lobo wirft der Justiz vor, sich in Gestalt einer Staatsanwältin und einer Richterin "faktisch an die Spitze eines hochorganisierten Internetmobs gesetzt" zu haben. Diese Meute sei hinter jemanden her, der eigentlich nichts Ungewöhnliches mache und sein Geld damit verdiene, "einige Facetten seines Lebens ins Netz zu stellen". Und weiter heißt es: "Weil er ist, wie er ist, und wagt, sich in der Netzöffentlichkeit zu zeigen, wird er seit 2013 ausnahmslos jeden Tag von einem Zehntausende Menschen starken Hassmob gequält." Bei R. Winkler handele es sich um ein einzelnes Opfer, das immer wieder von tausenden Tätern verfolgt werde. Dabei schaue ihm ungeheuerlicher Weise ein Millionenpublikum belustigt zu. Es handele sich bei all dem um "die extremste Form des Cybermobbing in Deutschland". Der Staat habe es nicht nur versäumt, R. Winkler zu schützen, nein, er, so S. Lobo, mobbe selbst kräftig mit. Die Diagnose des Spiegel-Internetsachverständigen ist denn an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen, wenn er eine "katastrophale Versagensgeschichte der digitalen Gesellschaft, verantwortet von Medien, Politik, Exekutive, Jurisdiktion und dem Publikum" diagnostiziert.


Die Liste der teilweise strafwürdigen Angriffe auf den sog. "Drachenlord" ist lang und S. Lobo führt folgende Punkte auf: Beleidigungen, Bedrohungen, Herabwürdigungen, Attacken auf das Haus von R. Winkler, Fake-Bestellungen, tätliche Angriffe, Beleidigungen und Schmähungen von Familienangehörigen, eine Grabschändung, gezielte Provokationen verschiedenster Art, die ihn zu unbedachten Reaktionen veranlassen sollen, die dann wiederum von seinen Widersachern ins Netz gestellt würden. R. Winkler werde ohne jeden Ausweg für ihn tagein, tagaus gequält.


Relativ ausführlich schildert S. Lobo eine Begebenheit, die über die sozialen Netzwerke hinaus Aufmerksamkeit gefunden hat. R. Winkler hatte sich online in eine junge Frau verliebt, die dessen Avancen eine Zeitlang scheinbar erwiderte. Als der sog. "Drachenlord" dieser schließlich coram publico einen Heiratsantrag unterbreitete, lehnte sie diesen nicht nur ab, sondern bezeichnete Winkler - zum Gefallen des "Mobs", vom sog. "Drachenlord" auch "Hater" genannt - zudem als dickleibigen Idioten.


Resümierend kritisiert S. Lobo "die Medien" dafür, R. Winkler unterstellt zu haben, all das, was diesem durch "die Hater", eine Gruppe "faschistoide(r) Menschenfeinde", widerfahren sei, selbst so gewollt zu haben. Tatsächlich, so Lobo, habe dieser nie eine andere Wahl gehabt, als sich unter Anwendung von Gewalt zur Wehr zu setzen, denn das Ziel des Hater-Spiels habe darin bestanden, ihn "in den Selbstmord zu treiben". 


S. Lobo macht sich zum uneingeschränkten Fürsprecher R. Winklers und konstatiert ein katastrophales Versagen von Justiz, Medien und Gesellschaft, denen er vorwirft, "eine der schlimmsten Opferverhöhnungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" begangen zu haben: ein unwissender und zynischer Staat als Mit-Mobber sozusagen, der dem Hassmob nichts entgegenzusetzen habe.


Eine Frage drängt sich abschließend auf: Gäbe es für R. Winkler nicht einfach die Möglichkeit, sich aus den Social Media zurückzuziehen und die Kunstfigur "Drachenlord" ad acta zu legen? Internet-Guru S. Lobo erteilt diesen naheliegenden Rat nun gerade nicht. Er schreibt: "Winkler verdient sein Geld mit seinen Netzauftritten, er kann nichts anderes. Das aufzugeben, würde ihn ins Nichts stürzen." Das wäre ungefähr so, fährt Lobo fort, "als würde man einem Opfer häufiger Raubüberfälle vorschlagen, einfach nicht mehr zur Arbeit zu gehen, damit die Raubüberfälle aufhören."


Wenn ein meinungsstarkes Medium wie DER SPIEGEL das soziale Problem "Mobbing" thematisiert und in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit rückt, ist dies nur allzu berechtigt und notwendig. Dass S. Lobo allerdings ausgerechnet den sog. "Drachenlord" als paradigmatisches Fallbeispiel heranführt, wird der Bedeutung dieses sozialen Problems in keiner Weise gerecht.


R. Winkler hat sich dazu entschlossen, sich in die Arena der Social Media zu begeben. Durch diese Arena führen keine glatt gepflasterten Boulevards, auf denen Stars und Sternchen flanieren. Die Pflaster der Seitenstraßen sozialer Medien sind rau, der Umgangston ist eher ungehobelt, man sagt jemandem etwas nicht ins Gesicht, sondern direkt "in die Fresse". 


Und genau in dieser Arena trachtet R. Winkler sich zu behaupten. Es wird ausgeteilt und eingesteckt, provoziert und reagiert. Dass ausgerechnet der Internetversteher S. Lobo dieses Geschäftsmodell des wechselseitigen Anstachelns, im Falle R. Winklers und seinen "Hatern" auch "Drachen-Game" genannt, mit und durch "Reactions" mit Mobbing verwechselt, verwundert mich sehr.


Um es klar zu sagen: Der sog. "Drachenlord" ist ganz sicher kein Mobbing-Opfer. Vielmehr geriert sich diese Social-Media-Figur als ein solches, um möglichst viel Profit aus der eingenommen Opferrolle zu schlagen. Extreme Formen des Cybermobbing finden in der BRD wahrscheinlich tausendfach tagtäglich gerade nicht vor einem Millionenpublikum statt. Sie geschehen immer wieder unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle. Ausgerechnet R. Winkler, der monatlich mehrere Tausend Euro von seinen Followern dafür erhält, sein "Martyrium" zu inszenieren, gleichsam zum Anwalt von jungen Menschen zu machen, die tatsächlich Mobbingangriffen ausgesetzt sind, verdreht die Tatsachen eklatant. S. Lobo wird dem Thema nicht nur nicht gerecht, nein, er verhöhnt die tatsächlich Betroffenen obendrein noch.


Am Rande sei angemerkt, dass die von S. Lobo als Beispiel für des "Drachenlords" Martyrium herangeführte Episode des gescheiterten Heiratsantrags sich auch ganz anders lesen lässt. Wie viele junge Frauen müssen sich immer wieder in Internet-Chats widerlichen Nachstellungen weit älterer männlicher User aussetzen? Ist es nicht eher ein Zeichen von widerständiger Stärke und Empowerment, wenn solcherlei Sexting offensiv begegnet wird?


Völlig absurd wird S. Lobos Verteidigung des sog. "Drachenlords", wenn er den jederzeit möglichen Rückzug R. Winklers aus dem Internet als ein Ding der Unmöglichkeit mit dem Argument vom Tisch wischt, dieser könne ja nichts anderes, sei also auf Gedeih und Verderb an den Gaming-Stuhl gefesselt. Einmal abgesehen davon, dass dies in Anbetracht der Fülle bestehender biografischer Entfaltungsmöglichkeiten völliger Unsinn ist, bestärkt der Spiegel-Meinungsmacher einen Menschen darin, einen Weg weiter zu verfolgen, von dem angenommen werden kann, dass dieser über kurz oder lang in den Abgrund führen wird. Der inzwischen 34-jährige R. Winkler wird mit jedem Jahr, das er bettelnd und schnorrend auf Social-Media-Kanälen verbringt, immer weniger in der Lage sein, einen Ausweg aus dieser Abhängigkeit zu finden. Indem S. Lobo den sog. "Drachenlord" darin bestärkt, sich selbst tagtäglich als "Mobbing-Opfer" zu inszenieren, führt er damit einen Abhängigen nur immer weiter in die Abgründe der Sucht. Verantwortungsvoll ist solcherlei Co-Abhängigkeit niemals!


Ich möchte vermuten, dass sich S. Lobo über diese Zusammenhänge auch vollkommen im Klaren ist. Was könnte ihn also dazu bewegen, sich zum Fürsprecher des "Drachenlord" zu machen?


Die Antwort liegt in der kühlen Profitlogik des Mediensystems. Ich möchte behaupten, dass es sich beim sog. "Drachenlord" um eine der bestdokumentierten Biografien in der BRD handelt. Das gestreamte Material in Gänze zu sichten würde wohl locker ganze Wochen Zeit beanspruchen. Eine Fundgrube also für einen Mediendeal: Wie wäre es mit einer Thematisierung von Mobbing am Beispiel von R. Winkler im Serienformat? Erste Ansätze dazu in herkömmlichen Medien hat es bereits gegeben. Hier vermute ich denn auch die wahre Intention S. Lobos: Der sog. "Drachenlord" möge seine Mobbing-Inszenierung unbedingt fortsetzen. Käme es zu einer umfangreichen medialen Verwertung dieser, so hätte S. Lobo sozusagen "den Fuß mit in der Tür". Kreative Manipulatoren und schreibende Hochstapler vom Schlage eines Claas Relotius und Fabian Wolff gibt es gewiss zuhauf. DER SPIEGEL und viele andere deutschsprachige "Leitmedien" wissen ein Lied davon zu singen. Ob sie daraus Lehren ziehen, dürfte bezweifelt werden. Spätestens dann, wenn etwa eine Überschrift lauten könnte: "Der Drachenlord. Eine der schlimmsten Opferverhöhnungen der deutschen Nachkriegsgeschichte" sollte man wissen, dass mit der banalen Wahrheit kreativ Schindluder getrieben würde.



Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.