Dienstag, 30. April 2019

《Lass es dir schmecken!》 - Zum Tod von Volker Schmidt


Volker Schmidt wird auf Hamburgs Straßen, insbesondere in St. Georg rund um den Hansaplatz unvergessen bleiben.

Meine erste Begegnung mit Volker fand dort statt, wo er sich stets in seinem Element gefühlt hat: in der Küche des B20 in der Brennerstraße. Damals im Jahr 2013 fanden im Untergeschoss des einstmaligen Autohauses Teile der Gruppe Lampedusa in Hamburg ein zeitweiliges Obdach. Jeden Tag kochte Volker für die Refugees, war eine Bezugsperson für viele Menschen, die sich am Tresen versammelten. Wurde aufgetischt, brummte Volker: 《Lass es dir schmecken!》 und fasste sich dabei ans Herz.

Vielleicht ist es hilfreich, will man Volkers humanistische Motivation verstehen, etwas aus seinem Leben zu wissen. Volker war ein Kind der DDR, will sagen: ihn prägte ein Zwiespalt. Da war auf der einen Seite eine Gesinnung, die in einem humanen Sinne wirklich sozialistisch war, ein Impuls, für seine Mitmenschen da sein zu wollen - und zwar mit Tatkraft. Dann waren da allerdings die negativen Erfahrungen in einem sozialistischen Staat, der seine autoritären Züge allzu oft zum Vorschein brachte. Daraus erwuchs sein anti-autoritäres Selbstverständnis, seine Querköpfigkeit, eine gewisse mecklenburgische Kantigkeit auch. Beide Seiten der DDR-Sozialisierung prägten denn auch seine Persönlichkeit.

Das soziale Projekt B20 war 2014 beendet, den Behörden war die Beherbergung der Refugees längst ein Dorn im Auge, ein Verein zur Zwischennutzung der Immobilie gründete sich, Volkers Tätigkeit als Koch war nicht weiter erwünscht.

Nun war es nicht Volker Schmidts Art, sich zur Untätigkeit verdammen zu lassen. Seine Idee: wenn denn die Suppenausgabe im B20 stationär nicht mehr möglich sein sollte, musste es eben mobil gehen. Ausgerechnet eine knallrot lackierte Gulaschkanone aus den Beständen der ehemaligen NVA, wo Volker einst seinen Wehrdienst bei der Volksmarine absolvierte, hatte er aufgegabelt. Eine schöne ironische Volte und zugleich eine wahrhaft sinnvolle Konversion eines Rüstungsguts!

Natürlich: die mobile Suppenküche gab es nicht umsonst und hier mussten Finanzmittel mobilisiert werden. Der Stadtteilbeirat St. Georg stellte schließlich die notwendigen Mittel zur Verfügung. Leider fand sich trotz vielerlei Bemühungen keine Küchenräumlichkeit, in der die Speisen hätten zubereitet werden können. Somit diente Volkers kleine eigene Küche in seiner Wohnung zur Vorbereitung und zum Kochen.

Schließlich konnte es losgehen mit《Hamburg is(s)t gut!》. Täglich erschien Volker mit der roten Suppenküche am Kreuzweg vis-à-vis zum Steindamm. Und zwar bei Wind und Wetter! Und immer wieder brummte Volker herzlich, nachdem die Kelle in die Suppenschüssel geleert wurde: 《Lass es dir schmecken!》

Doch blieb der Suppenausschank am Kreuzweg Episode. Immobilienbesitzer, Behörden und manche anderen, die sozialem Engagement Steine in den Weg zu legen pflegen, sorgten auf die ihr eigene Weise dafür, dass die rote Suppenküche nunmehr an der Peripherie des Hansaplatzes an der Ellmenreichstraße unweit des Schauspielhaus-Seiteneingangs verlegt werden musste. Verdrießen sollte dies den Seebären jedoch keineswegs und so ließ er sich auch dort im sonoren Brummton vernehmen: 《Lass es dir schmecken!》

Danach ging es mit dem Projekt weiter, später auch ohne die rote Suppenküche. Ein Kessel, in einem Einkaufswagen befördert, diente fortan als Ausgabestation. Aber dies ist dann nicht mehr eine Geschichte, die ich in der Lage bin zu erzählen. Denken kann ich mir allerdings sehr lebhaft, wie Volker Schmidt den Hungrigen nach Ausgabe der warmen Mahlzeit zubrummte: 《Lass es dir schmecken!》









Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

Dienstag, 16. April 2019

Notre Dame - ein Kommentar

Kathedralenbrände sind in ihrer jeweiligen Gegenwart spektakuläre Ereignisse, in die die Zeitgenossen vielerlei hineinzulesen pflegen: Die Katastrophe als Zeichen für alles Mögliche. Historisch betrachtet gehören solcherlei Havarien zur Biografie berühmter Gebäude. Ein Brand stellt dann eine Art Zäsur dar, die sich in die Struktur des in Frage stehenden Gebäudes im Wortsinn 《eingebrannt》 hat. Insofern relativiert sich das Spektakel. Wie viele Monumentalbauwerke gibt es auf diesem Planeten, die nicht schon mindestens einen Großbrand haben überstehen müssen? Nicht eben viele, denke ich. Was mich eigentlich aufregt ist dieses: Unternehmenskonsortien haben 700 Millionen Euro für die allfällige Rekonstruktion der Notre Dame zur Verfügung gestellt. Frage: Wäre es nicht angebracht, Eigentümer dieser Größenordnung in Gemeinwohlhaftung zu nehmen? Wer freiwillig in der Lage ist, Summen dieser Größenordnung für die Rekonstruktion von Sakralgebäuden zu mobilisieren, der sollte regelmäßig herangezogen werden, für die weltlich-irdischen Bedürfnisse armer Menschen entsprechende Ressourcen zu akkumulieren.

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Samstag, 30. März 2019

Darf man den Bertelsmannkonzern einen 《schmierigen Rechtehändler》 nennen? Ist das eine antisemitisch eingefärbte Kritik?

Am 26. März 2019 habe ich auf Facebook einen Beitrag aus der FAZ weitergeleitet. Autor Carsten Germis berichtet dort über die Digitalstrategie des Bertelsmannkonzerns in der Wettbewerbssituation mit 《Google und Co.》Bezugnehmend auf die in dem FAZ-Beitrag zitierten Aussagen von Konzernchef Thomas Rabe kommentierte ich auf Facebook wie folgt: “《Die Produktion hochwertiger Inhalte ist für Konzernchef Rabe einer der Wettbewerbsvorteile von Bertelsmann gegenüber den globalen Tech-Plattformen.》Haha, this made my day. Bertelsmann, Qualität, Inhalte - wer findet den Fehler?” Wie das so ist und wie ich mir dies ja auch wünsche, entspann sich eine Diskussion über mein Posting. Miriam Gebhardt, Historikerin und Autorin für einen der Verlagsgruppe Random House (Bertelsmann) zugehörigen Verlage, entgegnete mir: 《DVA, Siedler, Manesse, etc., Da gibt's so einige Qualität.》 Darauf reagierte ich zugegebenermaßen etwas flapsig so: 《Eher eingekaufte Qualität. Bertelsmann ist nichts anderes als 1 schmieriger Rechtehändler.》Miriam Gebhardt wollte nun genauer wissen, was mit der Wendung 《schmieriger Rechtehändler》 gemeint ist und las aus meinen weiteren Einlassungen《die (antisemitisch eingefärbte) Kritik an modernene (sic!) Berufen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts heraus, von wegen raffendem Kapital u.s.w.》 Dieses habe sie stutzig gemacht.

Ich bin weit entfernt davon, rechthaberisch zu sein, möglicherweise würde ich die inkriminierte Wendung in einem differenzierten Text z.B. zum Wirken der Bertelsmann Stiftung so nicht verwenden. Dennoch: Miriam Gebhardts Vorwurf, hier etwas antisemitisch Eingefärbtes gepostet zu haben, bedarf der Entgegnung. Was also ist an dem Rechtehändler Bertelsmann 《schmierig》? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich folgende Punkte nennen:

  1. Wenn im hauseigenen Sender RTL sozialpornografische Fake-Dokumentationen laufen, in denen Hartz-IV-Bezieher der Lächerlichkeit preisgegeben werden und Bertelsmann mit den Lebensschicksalen armer Menschen Geld verdient, dann ist das: schmierig.
  2. Die Unternehmensgeschichte des Gütersloher Medienhauses ist eine durchaus schmierige: mit den Nazis wurde kollaboriert und die Wehrmacht mit militaristischen Schriften versorgt. Sich selbst vor diesem Hintergrund als 《Widerstandsverlag》zu titulieren, was ist das anderes als 《schmierig》? Mit knallharten Drückermethoden wurden in der BRD der Adenauer-Jahre Millionen in den Buchclub genötigt. Hier von einer transparenten Geschäftspolitik zu reden wäre glatt gelogen. Groß geworden ist Bertelsmann durch ein aggressives und eben: schmieriges Geschäftsgebaren.
  3. Thilo Sarrazins Rendement wäre ohne den Rechtehändler Bertelsmann so nicht denkbar. Sein 2010 bei Random House (Bertelsmann) erschienenes rassistisches Traktat 《Deutschland schafft sich ab》wäre ohne die massive mediale Orchestrierung durch 《Stern》 (Gruner + Jahr, Bertelsmann) und RTL-Sendungen (Bertelsmann) nicht das geworden, als was es heute gesehen werden muss: eine Art neurechtes Gründungsdokument nämlich. Wenn die konzerneigene Bertelsmann Stiftung dann Studien zum Thema Integration publiziert und sich Bertelsmann den Anschein von Progressivität verpassen will, dann nenne ich diese Diskrepanz von Schein und Sein - schmierig.
  4. Mit der von den Finanzbehörden als 《gemeinnützig》 anerkannten Bertelsmann Stiftung hat der Konzern ein raffiniertes Steuersparmodell kreiert. Mit ihren Expertisen dient sie dem Konzern als eine Art steuerlich subventionierter Forschungs- und Entwicklungsabteilung und berät zudem Ministerien und Regierungen in Bund und Ländern im Sinne der unternehmerischen Ziele des Bertelsmannkonzerns. Was unter der Fassade der Gemeinnützigkeit zu Tage tritt: Steuervermeidung, öffentlich subventionierte Einflussnahme, Lobbyismus - dies 《schmierig》 zu nennen, finde ich so abwegig nicht.
Noch Etwas zu Miriam Gebhardts Vorwurf, meine Kritik am Rechtehändler Bertelsmann sei antisemitisch eingefärbt. Ich finde es wichtig und notwendig, sich selbst immer wieder zu befragen: ist eine bestimmte Wortwahl angemessen, stimmt die Intention eines Texts oder haben sich, unterschwellig vielleicht, Tonalitäten eingeschlichen, die antisemitisch sind. Insoweit bin ich für Miriam Gebhardts kritischem Hinweis dankbar. Zu bedenken geben möchte ich allerdings dieses: Wenn auf deutschen Schreibtischen vielerlei Sticker herumliegen, auf denen das Wort 《Antisemitismus》 steht und diese Aufkleber sozusagen reflexhaft verteilt werden, dann zeigt dieses mir: Ja, leider, Antisemitismus ist in der BRD nicht überwunden - und ich möchte behaupten, er wird auch künftig nicht überwunden werden können. Es gibt ihn: rechts, in der sogenannten 《Mitte》 und auch links. Es gilt, ihn zu bekämpfen. Was mein Facebook-Posting angeht, rufe ich Miriam Gebhardt zu: das Wirken eines deutschen Medienhauses kritisch zu betrachten und herauszuarbeiten, was mir daran 《schmierig》 erscheint, hat keinerlei antisemitische Intention.

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Sonntag, 2. Dezember 2018

Steffen Roski: Gelbe Westen - ein Kommentar


Symbol des Protests in Frankreich: die Gelbe Weste
Wie sehr sich doch die Zeiten geändert haben! Sozialproteste in Frankreich, Proteste gegen Prekarisierung, gegen eine neoliberale Politik des Privatisierens und Sparens auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit, Proteste auch und vor allem gegen eine Politik, die vor dem Hintergrund von Komplexität und Globalisierung den Menschen zu suggerieren versucht, ihre Rezepte seien schlechterdings alternativlos, der Wähler habe kommentarlos zu schlucken, sprich: zu zahlen. Konkreter Anlass der Proteste: eine Energiewende à la francaise. Die stärkere Besteuerung von Treibstoffen trifft natürlich jene überaus hart, die ohnehin kaum wissen, wie sie über den Monat kommen sollen. Auch die Sozialproteste sind á la francaise: es brennt, der zivile Ungehorsam zeigt sich u.a. dort, wo die Kluft am deutlichsten hervortritt: an den zentralen Plätzen und in den Prachtboulevards der Hauptstadt Paris.

Wie sehr sich doch die Zeiten geändert haben! Sozialproteste in Frankreich hätten vor nicht allzu ferner Vergangenheit die politische Linke hierzulande elektrisiert. Nicht in dem trivialen Sinn, die französischen Aktionsformen umstandslos auf die BRD zu übertragen, denn so einfach würde dies nicht funktionieren. Wohl aber hätte die Linke in ihren Strukturen politischer Bildungsarbeit versucht, Interessierte und Aktivisten über die französischen Vorgänge zu informieren, um dann Schlussfolgerungen für die politische Praxis in der BRD zu ziehen. Ich sehe davon allerdings nichts. Im Gegenteil. Mir scheint die Linke im populistischen Dilemma wie erstarrt und aktionsunfähig geworden zu sein. Erinnern gelbe Westen nicht an verwirrte neurechte Reichs- und Wutbürger? Liefe man Gefahr, mit Protesten gegen die neoliberale Politik in der BRD, für die letztendlich Angela Merkel die Regierungsverantwortung nicht erst seit gestern trägt, in gefährlicher Weise in die Nähe jener zu rücken, die mancherorts lauthals 《Merkel muss weg!》 skandieren? Und noch etwas weiter gedacht: Verlöre die Linke den Anschluss an das urbane hipstereske Milieu der Ökologisten, deren gut verdienende Vertreter sich am grün-kapitalistischen Moral-Ablasshandel beteiligen, der darin besteht, für ökologisch Einwandfreies gern mehr Geld zu bezahlen?

Ja, die Zeiten haben sich in der Tat geändert! Die Linke hat sich längst von der Konfrontation mit den wahren sozialen Problemen in der BRD verabschiedet. Die Ironie dabei: Die Linke begründet ihren Abschied damit, nicht rechts erscheinen zu wollen - und überlässt damit eben jenen Kräften das Feld, denen sie doch eigentlich keinen Raum geben sollte.



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Sonntag, 28. Oktober 2018

Plakatkunst im Rahmen des Anfachen Award in der Hamburger Zentralbibliothek

Im Kontext des Anfachen Award sind in der Hamburger Zentralbibliothek am Hühnerposten (Bücherhallen Hamburg) Plakate ausgestellt, die auf je unterschiedliche Art und Weise und in verschiedener Perspektive um das Thema Toleranz kreisen. Plakate werden vor allem als Werbemittel eingesetzt und prägen auf ihre Weise urbane Situationen. Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, sinnfälligerweise in der Nachbarschaft der Zentralbibliothek gelegen, wird des Öfteren der Grenzbereich von werberischer Gestaltung und Kunst ausgelotet. Manche der in der Zentralbibliothek präsentierten Plakate hätten m.E. durchaus auch im MfKG präsentiert werden können.

Die Plakate des Anfachen Award regen zur Diskussion und zum Nachdenken an. Mal mit eindeutiger Botschaft, mal mit einem gewissen Hintersinn, mal mit gestalterischem Witz: sie sind weithin sichtbar, gelegentlich auch provokativ und sind ein Medium des gesellschaftlich-politisch-ästhetischen Diskurses.

Ich habe einige der ausgestellten Exponate fotografiert, woraus sich eine lichttechnische Limitation ergibt: manches Plakat, welches ich gern im Folgenden gezeigt hätte, ist so stark ausgeleuchtet, dass seine getreue Reproduktion nicht eigentlich möglich ist. Deshalb die Beschränkung auf sieben der ausgestellten Plakate, die allerdings durchaus einen guten Eindruck in die Qualität der Arbeiten geben.

Für weitere Informationen mag man sich wenden an: ANFACHEN AWARD / Frappant e.V., Zeiseweg 9, 22765 Hamburg.









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Samstag, 4. August 2018

Eine Denkfabrik im Deutschlandfunk

Der Deutschlandfunk ruft Hörer dazu auf, sich bis zum 15. August 2018 an der <Denkfabrik> zu beteiligen.

Mit folgendem Schreiben an den DLF habe ich genau dies getan und möchte es als Blog-Eintrag dem interessierten Leser zur Kenntnis geben:

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich lebe in Hamburg, genauer im Stadtbezirk Altona und dort im Stadtteil Osdorf am Osdorfer Born, ein reinenes Wohnquartier, das vor 50 Jahren hochgezogen worden ist. <Getto>, von <sozial schwachen> Menschen bewohnt, so dürfte es jenen allzu leicht über die Lippen kommen, die es aus den trendigen Szene- und Designervierteln zufällig einmal nach Osdorf verschlägt. Mein Eindruck ist, dass sich städtische Politik, genauer: vor allem die politischen Parteien von links bis rechts aus Wohnquartieren wie dem Osdorfer Born fast vollständig zurückgezogen hat. Besonders schmerzt es mich, dass auch Parteien des linken politischen Spektrums im Alltagsleben des Stadtteils kaum mehr sichtbar sind. So residiert etwa die Partei DIE LINKE im Stadtbezirk Altona im edelhippen Ottensen, eine Dependance im abgehängten Osdorf dagegen: Fehlanzeige. Meine Befürchtung ist, dass dieser Rückzug des Politischen jenen Menschenfischern in die Hände spielt, die raunend von <Altparteien>, dem <System>, der <Lügenpresse> usw. schwadronieren. 

Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn der Deutschlandfunk diesen augenfälligen Rückzug des demokratisch Politischen aus bestimmten Wohnquartieren, Stadtteilen oder Ortschaften einmal zum Thema einer Sendung machen könnte.

Mit besten Grüßen,


Steffen Roski


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Samstag, 9. Juni 2018

64 Prozent - oder: Was läuft falsch in der Partei DIE LINKE?

Mit 64 Prozent der Delegiertenstimmen ist sie im Amt der Parteivorsitzenden bestätigt worden: Katja Kipping, Liebling der metropolitanen hipsteresken Soja-Latte-Linken.
Wenn es eines Beleges bedurfte für die Spaltung innerhalb dieser Partei, die auch Ausdruck des gesamtgesellschaftlichen Gespaltenseins ist, dann ist dieses Wahlergebnis ein klares Zeichen.
In diesem Marx-Jahr 2018 wird desöfteren das kommunistische Manifest zitiert. Dabei muss den Partei-Linken gelegentlich der korrekte Titel des programmatischen Texts in Erinnerung gerufen werden: <Manifest der kommunistischen Partei>. Bereits in der Titelgebung wird deutlich: es geht hier um nichts weniger als die Organisationsfrage.
Und diese Frage zu stellen, bedeutet konkret zu werden. Ich selbst lebe in Hamburg, im Stadtbezirk Altona und dort im Stadtteil Osdorf. Wo befindet sich die nächstgelegene Geschäftsstelle der Partei DIE LINKE? Im durch und durch gentrifizierten Designer-Quartier Ottensen.
Was wurde auf dem letzten Plakat der Partei DIE LINKE, welches mir in meinem Stadtteil begnetete, beworben? Eine Veranstaltung zum Thema Sexismus in der Werbung, die in ebenjenen Ottensener Räumen stattfand.
Was das alles mit Kipping und dem Wahlergebnis zu tun hat? Auf den ersten Blick wenig. Schaut man genauer, dann schon mehr.
Die Partei DIE LINKE hat vielerorts die Bedürfnisse jener aus den Augen verloren, die am Rande der sich weltoffen gerierenden Premium-Meritokratie in elenden Wohnsiedlungen am Hartz-IV-Tropf hängend vor sich hinvegetieren müssen. Ja, über diese <Abgehängten> wird in der selbstgerechten Prosecco- und Bussi-Gesellschaft der wohlmeinenden <Linken> gern als <sozial Schwache>  geredet, die von linkem Internationalismus und internationaler Solidarität nichts verstünden.
Kurzum, die Partei DIE LINKE hat die von Marx und Engels aufgeworfene Organisationsfrage noch nicht einmal wahrgenommen. Ansonsten wäre sie ja massiv mit Vor-Ort-Büros und stadtteilbezogenen Initiativen dort vertreten, wo die sozialen Probleme im Regime kapitalistischer Akkumulation tatsächlich pressieren.
Im Wahlergebnis für Katja Kipping drückt sich das Elend der Partei DIE LINKE zählbar aus: Es reicht eben nicht, für die ex-grüne Edelklientel in gentrifizierten Hipster-Communities wählbar zu sein. - Höchste Zeit also für eine linke Sammlungsbewegung.

Donnerstag, 26. April 2018

Ein Musikpreis und seine Schallreflexionen. Bei BMG (Bertelsmann) hat's Bang gemacht

Der Musikpreis Echo ist seit heute Geschichte. Die Zahl derer, die dies bedauern, dürfte recht überschaubar sein.

In diesem Blog-Beitrag möchte ich chronologisch meine Kommentierung des Skandals um Farid Bang und Kollegah sowie ihrem Musikverleger BMG (Bertelsmann) so wiedergeben, wie sich diese unter meinem Account @sroski auf Twitter bis heute (25. April 2018) dargestellt hat.

Neben diesen Hauptdarstellern tauchen eine Reihe von Nebenakteuren auf: so z.B. der ZDF-Royalist und hipsteresk-pseudo-kritische Spaßvogel Jan Böhmermann, der sich nur allzu gerne als kumpelhafter Homie von Antisemiten und Schlägertypen à la Kollegah geriert. Fehlen darf natürlich nicht der allfällige CSU-Kommentar eines Alexander Dobrindt, der in der Manier eines einfallslosen konservativen Politikers das tut, was er bloß kann: nach dem (Polizei-)Staat und Gesetzen zu rufen anstatt das Problem an der Wurzel zu packen. Dies würde nämlich bedeuten, die Geschäftspraktiken und das Geschäftsmodell eines der weltweit größten Medien- und Dienstleistungskonzerne zu untersuchen: Bertelsmann.

Ich möchte die Angelegenheit so pointierten: Ja, den Echo, den gibt es nicht mehr - Bertelsmann allerdings wird ohne Skrupel weiter seine Geschäfte machen - mit Dummheit, Hass, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, mit RTL, Sarrazin, Hartz-IV-Sozialpornografie, mit Gangsta-Rap, Inkasso-Diensten, Digitalbildung und und und.

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Mittwoch, 18. April 2018

Zarter Schmelz für Spießer. Frederico Albanese und sein Ensemble in der Elbphilharmonie am 17. April 2018

Einmal schön seicht, bitte.

Dass Hamburg eine sozial gespaltene Stadt ist, manifestiert an kaum einem Ort deutlicher als in der Elbphilharmonie. Das Milliardengrab der Stadtbourgeoisie ist ein Ort der Exklusion. Der systematische Ausschluss derer, die nicht dazugehören sollen, wird hier von einem Publikumsgemisch aus Bewohnern von Designer-Wohnquartieren wie Eppendorf, Blankenese und Ottensen sowie den allfälligen Touristengruppen tagtäglich in Form eines menschenverachtenden Zynismus zelebriert. So war mir der Zugang zu einem Konzertticket erst zwei Jahre nach Eröffnung der von den Hamburgern in seltener Einfalt sogenannten ElPhi möglich.

Und tatsächlich war mir die auf dem Programm des Abends stehende Musik gar nicht wichtig. Um es klar zu sagen: Wegen Frederico Albanese und seinem Ensemble wäre ich in keinen Konzertsaal dieser Welt gegangen, vielmehr war es mir wichtiger, einmal die viel gerühmte Akustik der milliardenschweren Weihestätte des Hamburger Musiklebens aus eigener Wahrnehmung zu erkunden.

Immerhin hat Frederico Albanese erreicht, diesen Blog-Beitrag dann doch der dargebotenen Musik zu widmen, stellte doch das Klanggesäusel des Italieners ein veritables Ärgernis dar. Auf einen Nenner gebracht möchte ich die öligen Ergüsse Albaneses und seines Ensembles so beschreiben: ein mäßig talentierter Komponist repetitiert pianistisch synthetisch-ambiente Figuren, über die vier Streicher karamelisierten Schmelz gießen. An jeder Supermarktkasse gibt es diese zuckersüßen Kügelchen zu kaufen - Giotto heißen diese und Frederico Albanese wäre der ideale Marketingkomponist dieser italienischen Süßware. Ihm würde sogar das Kunststück gelingen, Giotto-Kugeln in Milch schwimmen zu lassen, er besitzt die dazu notwendige kompositorische Oberflächlichkeit.

Der geneigte Leser mag zu der Ansicht gelangen, ich hätte etwas gegen zeitgenössische italienische Komponisten. Dem ist mitnichten so, schätze ich doch etwa Luciano Berio, Luigi Nono und Giacinto Scelsi sehr. Künstlerischen Persönlichkeiten dieses Kalibers ist eines stets glasklar: Wenn ein sich vorwiegend aus den bürgerlichen Schichten rekrutierendes Konzertpublikum den Saal mit zufriedenen Minen verlässt und sich gleichsam vor Glückseligkeit bepisst, dann hat die Musik versagt, der Komponist die Realität antagonistischer gesellschaftlicher Widersprüche klanglich zugekleistert und ist folglich seinem künstlerischen Auftrag in keiner Weise gerecht geworden. Albanese hat noch nicht einmal im Ansatz begriffen, dass Minimalistik in der Musik sich eben nicht in der endlos-schwülstigen Wiederholung des immer gleichen Klangmaterials erschöpfen darf, sondern vielmehr - man denke an Philip Glass, John Cage und Morton Feldman - in der mikroskopischen Variation von Mustern besteht, die sich in der zeitlichen Dauer des musikalischen Prozesses einem schließlich radikalen Wandel unterziehen.

Das Schnöselpublikum des Elphi-Milliardengrabs wird am Ende der Darbietung von Frederico Albanese und Ensemble erleichtert konstatiert haben, dass hier nicht gebohrt wurde, sondern im Gegenteil vielmehr süßlich-klebrige musikalische Giotto-Kügelchen in die Ränge geworfen wurden. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Programmgestaltung der Elbphilharmonie obliegt nicht den rigiden Gesichtspunkten künstlerischer Expertise, sondern den merkantilen Interessen einer Stadtgesellschaft, die verlogene Harmonie einer kritisch-wahrhaftigen Kunst den Vorzug einräumt. Schande über die Häupter solcher Künstler, die sich und die Kunst verleugnen, bloß konfektionierte Massenware abliefern. Frederico Albanese gehört zweifellos in diese zwielichtige Gesellschaft.




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Sonntag, 25. März 2018

Über den Alltagsgebrauch des Worts Rassismus

Als Soziologe freut es mich sehr, wenn Fachkollegen sich zu Themen vernehmen lassen, die einen alltagsweltlichen Bezug haben. Gleichzeitig betrübt mich, dass dies allzu oft in einem Duktus der akademischen Unverständlichkeit geschieht. Soziologen berauben sich damit der Chance, die Stimme der wissenschaftlichen Vernunft wahrnehmbar zu machen - gerade auch für Menschen, deren Gewohnheit nicht darin besteht, Diskurse zu analysieren und die Legitimität von Narrativen zu beurteilen. Dabei ist die Stimme der Soziologie gerade in unseren Zeiten der neuen Irrationalität, von Hatespeech und der  argumentativen Verkümmerung wichtig wie selten zuvor.
Der Begriff Rassismus ist in aller Munde. Und natürlich sind die fachsoziologischen Veröffentlichungen zum Thema Legion. Dabei wird jedoch vernachlässigt, die Erkenntnisse der Disziplin so zu trivialisieren und aufzubereiten, dass ein breiteres Publikum von ihnen profitieren könnte. Wenn etwa einschlägige Fachpublikationen von Begriffen wie Critical Whiteness, Cultural Models, Ethnisierung, Postkolonialismus usw. nur so strotzen, darf sich die Disziplin nicht darüber wundern, wenn an sie der Vorwurf adressiert wird, nur noch selbstreferenziell um abstrakte Konstrukte zu kreisen. Dann verdammt sich die Soziologie selbst, die ja, Luhmann folgend, Wissenschaft von der Gesellschaft in der Gesellschaft sein sollte, zur gesellschaftlich-politischen Bedeutungslosigkeit und gibt das leicht lächerliche Bild einer Gemeinschaft von Leuten, die sich in esoterischem Wortgeklingel üben. 
Eine typische Argumentationsfigur der sogenannten Neuen Rechten oder <Identitären> erlaubt es mir, das Thema bei den Hörnern zu packen. Sie funktioniert etwa so: Wenn, so wird argumentiert, sogenannte <Gutmenschen> Vertretern der Neuen Rechten oder den <Identitären> Rassismus unterstellen, dann bedienten sich eben jene <Gutmenschen> genau des Konzepts, das sie ja eigentlich verurteilen würden. Kurz gesagt, ließe sich diese rechte Argumentationsfigur so zuspitzen: Wer von Rassismus spricht, ist selber ein Rassist.
Was auf den ersten Blick als ein bestechendes Argument erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als billiger Trick eines sophistischen Straßenzauberers. Wenn wir über ein Phänomen sprechen, Bewertungen vornehmen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als diesem Phänomen einen Namen zu geben, es zu bezeichnen. Und wenn wir es dann aussprechen, um die Einstellungen des Gegenübers zu kennzeichnen oder gar zu kritisieren, dann läuft man eben leicht Gefahr, dass der Kritisierte einem die Bezeichnung als Return wie in einem Tennisspiel wieder um die Ohren haut.
Interessant an diesem Return ist ja zunächst einmal, dass auch der neurechte Gegenspieler zumindest so tun muss, als sei Rassismus etwas Negatives, ansonsten vergäbe dieser sich ja der Möglichkeit der Diskreditierung des <gutmenschlichen> Gegenübers. Dann ist an dem Konzept etwas Weiteres wichtig und interessant. Rassismus ist ein prozessualer Begriff, will sagen: der glasklare Rassist und der ebenso reine Antirassist bilden Endpunkte auf dem Kontinuum des Rassismuskonzepts. Daraus folgt etwas sehr Wesentliches. Insbesondere derjenige, der seinem Gegenüber den Vorwurf des Rassismus macht, muss stets jeweils den eigenen Standpunkt, die jeweils eigene Haltung in dieser Frage kritisch mitreflektieren. Denn rassistische Vorurteile fallen ja nicht einfach vom Himmel, sondern werden anerzogen, über sozialisatorische Instanzen (Peer Groups, Vereine, Bildungseinrichtungen etc.) gelernt und über Verbreitungsmedien alten und multimedialen neuen Typs vermittelt. Somit kann die neurechte, <identitäre> Argumentatuonsfigur sogar produktiv fruchtbar gemacht werden. Der Imperativ lautete dann: Der, der du mich einen Rassisten nennst, überprüfe dich zunächst einmal selbst, ob du dich stets vorurteilsfrei durch die Welt bewegst. Und sofern dieser Imperativ dann auch von dem neurechten oder <identitären> Gegenüber beherzigt würde, wäre für die Überwindung rassistischer Stereotype viel gewonnen. Dass hier allerdings Zweifel anzumelden sind, steht auf einem anderen Blatt.
Viel interessanter als Neurechte oder <Identitäre> zu überzeugen, erscheint es mir allerdings, den Imperativ, den ich aus der Kritik ihrer Argumentationsstruktur abgeleitet habe, im Alltagszusammenhang zu verwenden. Einmal ganz konkret auch auf mich selbst bezogen: Bin ich wirklich immer vorurteilsfrei? - Besser noch: Ich weiß ganz genau, nie zu 100 Prozent vorurteilsbefreit sein zu können. Bin ich mir aber darüber im Klaren, funktioniert mein kritischer Verstand, erkenne ich Vorurteile als solche, wenn sie sich doch einmal wieder Bahn brechen oder gar Bahn gebrochen haben?
Und dies lenkt dann abschließend meinen soziologischen Blick auf jene von den Neuen Rechten und <Identitären> gern als <Gutmenschen> Verspotteten. Und hier bleibt mir nur kritisch zu sagen: Ja, auch jene, die lautstark ihren Mund aufreißen und für sich Antirassismus reklamieren, sollten den Imperativ beherzigen. Nichts anderes besagt ja der Ansatz des Critical Whiteness. Konkret einige Beispiele:  Die weiße, privilegierte Feministin aus der Kreativwirtschaft sollte beim Thema Antirassismus kleinlauter sein, wenn sie sich ihre Designer-Wohnung von einer gering entlohnten Putze reinigen lässt. Oder: Der in der Flüchtlingshilfe engagierte Alt-Studienrat, der noch mal in der Deutsch-Gruppe den obermackernden Lehrer heraushängen lässt und freimütig Lob nach dem Motto <Du sprichst aber schon ganz toll Deutsch> verteilt, sollte in einer stillen Stunde mal darüber nachdenken, dass Diskriminierung positiv viel subtiler funktioniert als andersherum.
Insofern kann die Auseinandersetzung mit Neuen Rechten oder <Identitären> am Ende dazu beitragen, den je eigenen Balken im Auge zu erkennen.

Montag, 29. Januar 2018

Und das Arschloch ist: Maxim Biller.

Hamburg ist eine angemaßte Weltstadt und als solche leistet sich das Elbnest eine Reihe von beschaulich-bürgerlichen Presseerzeugnissen, die vorwiegend im Wochenrhythmus erscheinen. Geistig besonders Derangierte wie Oberstudienräte, Werber und allerlei Hipster-Gesocks aus der sogenannten Kreativwirtschaft halten Donnerstag für Donnerstag das wohl minderwertigste Spießbürger-Weekly stolz posierend vor ihre Wasserköpfe: DIE ZEIT.
Widerlinge wie Giovanni di Lorenzo, Josef Joffe und Iris Radisch adressieren ihre Sinnbotschaften an Ihresgleichen. Das DIE ZEIT-Feuilleton ist dermaßen verkommen, dass sich dort allerhand schwachsinniges Gesindel breit machen darf, ja, es soll dort Redakteurinnen geben, die voll tough auf feministisch machen, jedoch kein Problem damit haben, jeden sexistischen Twist eines Bremer Crétins namens Böhmermann unter lautem Jauchzen als Ausdruck edelster pseudo-kritischer Ironie zu adeln. Aber wehe, es wird diesen Hochglanz-ZEIT-Schlampen mal ganz real mit verbaler Schlüpfrigkeit begegnet - dann ruft man halt laut nach der Polizei.
Kein Wunder für mich, dass in diesem verkommensten Feuilleton der BRD dem Maxim"-analen-Oberarschloch" Biller eine halbe Seite spendiert wird. Das TV-gestählte Enfant terrible des heruntergekommenen Literaturbetriebs dieses unseres Landes passt olfaktorisch bestens in die vollgefurzte Filterblase des Hamburger Wochenblatts. Seine Frage nämlich, wer denn hier das Arschloch sei, betrachte ich mal bereits jetzt als hinlänglich beantwortet.
Dass DIE ZEIT ihre Filterblase mit dieser Biller-Polemik bespaßt, hat einen simplen Grund: Die glatt gegelten Edelstilisten blasen zum letzten Gefecht, wissen sie doch, dass ihre selbst angemaßte Deutungshoheit in den ätherischen Sphären des Leitmediums in Zeiten der Social Media längst sturmreif geschossen worden ist. Das Arschloch Biller schreibt:
<Und jetzt sage ich Ihnen, was mir zurzeit unglaublich auf die Nerven geht: dass Leute wie Sie immer öfter so tun, als hätten die Hass- und Hetz-Atmosphäre im Internet und die radikale, aggressive, sorgfältig komponierte Polemik irgendetwas miteinander zu tun ... Ja, Sie wollen eben nicht, dass man Ihnen mit scharfen Worten erklärt, wie verrottet inzwischen Ihre neu-alte deutsche Gegenwart ist ... (D)er Internet-Hass und der Hass eines bösartigen, wahrheitsliebenden, stringent argumentierenden und maßlos schimpfenden Publizisten haben absolut nichts miteinander zu tun ... Oder glauben Sie wirklich, dass Männer und Frauen wie Spinoza, Karl Popper oder Hannah Arendt mit 280 Zeichen, ein paar Flashmob-Posts und Facebook-Rants besonders weit gekommen wären?>
Och, Billerchen. Hast jetzt aber fein Mimimi gemacht. Dafür lädt dich Onkel di Lerenzo auch auf eine Pizza ein. Jetzt hat das kleine Arschloch so viele Worte gebraucht, so viele Autoritäten missbraucht, um den bescheuerten ZEIT-Lesern diese Botschaft zu vermitteln: Hass, Polemik und einfach mal Pöbeln sind nicht dasselbe.
Fazit: DIE ZEIT muss ganz schön am Arsch sein, wenn ein Arschloch wie Maxim Biller bemüht wird, um nur die Illusion von Deutungshoheit aufrecht zu erhalten.

Dienstag, 17. Oktober 2017

"Wir schaffen das!" - ein halbes Versprechen. Gedanken zur Debattenkultur innerhalb der Partei DIE LINKE

Der Philosoph Thomas Seibert wird in der taz gefragt, ob er Sahra Wagenknecht für rassistisch halte und kommt zu dem Ergebnis, dass "streng verstanden" die LINKE-Fraktionsvorsitzende eine Rassistin sei.
Ein harter Vorwurf, der, sollte er belegbar sein, zur Konsequenz haben müsste, dass gegen Sahra Wagenknecht - mitsamt einer recht großen Zahl von Partei-Linken, die sich mit ihren Positionen identifizieren - ein Ausschlussverfahren einzuleiten wäre. Diese Konsequenz jedoch führt der in formaler Logik geschulte Thomas Seibert in dem taz-Interview nicht an. Ein erstes Indiz für mich dafür, dass es ihm nicht so sehr um ehrlichen Konsequentialismus, sondern vielmehr darum geht, eine ihm unliebsame Politikerin primitivistisch zu stigmatisieren.
Wie also wäre ein Antrag auf Parteiausschluss nach Seibert zu begründen. Ich zitiere: "(D)ie Kanzlerin (hat) durch ihr „Wir schaffen das!“ einen ... Weg eröffnet und unsere Gesellschaft damit vor ein Entweder-Oder gestellt ...: Ja, wir schaffen das und schaffen damit auch eine andere, eine weltoffenere Gesellschaft – oder nein, wir schaffen und wollen das nicht, wollen unter uns bleiben." Und weiter: "(S)ammeln wir eine Mehrheit für das „Wir schaffen das!“ Hier ist die Rose, hier tanze!"
Thomas Seibert stellt keinen Antrag auf Parteiausschluss gegen Sahra Wagenknecht. Stellte er ihn, dann müsste er diesen damit begründen, dass die in Opposition zu Merkel stehende LINKE-Fraktionsvorsitzende sich nicht hinter die "Wir schaffen das!"-Kanzlerpolitik stellt.
Die Konsequenz der Seibertschen Argumentation wäre die politische Selbstdemontage der Partei DIE LINKE, ihr Aufgehen in das neo-liberale Wonderland der Angela Merkel.
Es ist wohl notwendig, Thomas Seibert auf die gesellschaftliche Realität der BRD in diesen Zeiten aufmerksam zu machen. Nur ein paar Schlaglichter:
*Altersarmut als Zustand und Perspektive.
* Bildungsungleichheit.
* Mangel an Lehrkräften und marode Bausubstanz tausender Schulen.
* SGB-II-Regelsätze, die alles sind, nur nicht bedarfsgerecht.
* Prekäre Beschäftigung als Normalfall.
* Ungleiche Entlohnung von Frauen.
* Kein tarifvertraglicher Schutz in weiten Bereichen des Dienstleistungssektors.
* Bezahlbarer städtischer Wohnraum als Mangelware.
* Zurückschrauben öffentlicher Dienste oft unterhalb eines Minimums.
Das ist die Situation heute und das war die Situation auch 2015. Und die Politikerin, die qua Amt die Gesamtverantwortung trägt, stellte sich vor die Kameras und tönte: "Wir schaffen das!"
Wenn eine linke Politikerin wie Sahra Wagenknecht eine Verantwortung hat, dann diese: nämlich jedem - auch dem hinter beschaulich-bunten Butzenscheiben sitzenden Akademiker - klarzumachen, dass das "Wir" in dem Merkelschen "Wir schaffen das!" kein solidarisches Kollektiv prinzipiell Freier und Gleicher ist, sondern dass ein bedeutender Teil dieses "Wir" jahrzehntelang geknechtet in prekärer Lebenssituation ächzt und stöhnt und nicht in der Lage ist, die eigenen Probleme zu bewältigen.
Vielleicht hat Thomas Seibert ja eine Antwort darauf, wie dieses "Wir" zusätzliche Herausforderungen wird "schaffen" können. Ich habe da meine Zweifel. Sicher bin ich mir dagegen, dass Politiker wie Sahra Wagenknecht die reale Situation in der BRD 2017 nicht nur kennen und analysieren, sondern gegen die neo-liberale Front aus Schwarz-Gelb-Grün durch eine harte Oppositionsarbeit mobil machen werden. Und das schließt mit ein, das halbe Merkel-Versprechen zum Gegenstand kritischer Debatten zu machen. Rassistisch ist das nicht.

Montag, 28. August 2017

Hamburg, G20, Gentrifizierung, Filz - und die Rote Flora

Die BRD-Soziologie befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Das Stresspotenzial ist hoch, Widersprüche treten in einem bemerkenswerten Ausmaß zutage, die Welt-Gesellschaft ist geprägt durch Umbrüche und auch regressive Tendenzen. Politisch verordneter Optimismus wird allenthalben demaskiert, lieb gewordene Koordinatensysteme geraten durcheinander. Die institutionalisierte soziologische Forschung hat zu alldem erstaunlich wenig bis nichts beizutragen. Wie das berühmte Kaninchen auf die Schlange schaut man gebannt nach Frankreich und wartet sehnsüchtig auf aktuelle Übersetzungen von Sozialstudien aus der weit verzweigten Schule des verstorbenen Professors Bourdieu. BRD-Beiträge sind da eher eine Rarität, stattdessen befördert man in methodischer Saubermannmanier Datensatz auf Datensatz, betreibt aus Armut an Forschung so genannte Armutsforschung, ohne jemals wirklich arm gewesen zu sein, traut sich an die Reichen und Superreichen nicht recht dran, camoufliert das Versagen, die Klassenfrage zu reformulieren, neuerdings mit Gender-Studies, delektiert sich an der Theatralik des Politischen und spült die Sozialwissenschaften weich. Mit der BRD-Soziologie verhält es sich ganz ähnlich wie mit den Leitmedien des Landes: Man geriert sich fein links-alternativ und feiert sich selbst als Hohepriester einer spät-biedermeierlichen Sozialmoral.

Mit der Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis hat all dies nichts zu tun. Dabei stellt es eine grobe Verkürzung des Weberschen Standpunkts dar, unterstellte man ihm eine aseptische gesellschaftlich-politische Enthaltsamkeit soziologischer Forschung. Ganz im Gegenteil: Soziologie kann nicht wertfrei betrieben werden. Eine Soziologie der Armut etwa ergibt nur Sinn dann, wenn ihr erkenntnisleitendes Interesse darin besteht, an prekären Soziallagen etwas zu verändern und diese gerade nicht als bloßes Faktum zu betrachten. Nur: Wenn denn soziologisch Armut etwa untersucht wird, dann - und das ist Webers These - muss dies mittels eines eines ausgereiften theoretischen Gerüsts und einer objektiven Methodik geschehen - auch auf die Gefahr hin, mit liebgewordenen Institutionen, Interessen und Ideologien zu brechen. Soziologen vom Schlage eines Pierre Bourdieu haben dies praktiziert und entschleiern so die Myriaden feiner Unterschiede, die dem oberflächlichen Blick stets verborgen bleiben.

Soweit die Vorbemerkung. Den Anlass für diesen Blog gibt mir ein Beitrag in den Ruhrbaronen (https://www.ruhrbarone.de/hamburg-krawalle/144668#). Genauer gesagt, handelt es sich um eine in dem  Ruhrbarone-Blog wiedergegebene Erklärung einiger Geschäfts- und Gewerbetreibender des Hamburger Schanzenviertels zu den Ausschreitungen des G20-Gipfels.

Das Hamburger Schanzenviertel ist ein Paradebeispiel für ein gentrifiziertes Stadtquartier, Spekulationsobjekte, Mietwucher, ein Boulevard für ein event- und lifestyleorientiertes hipster-eskes Szene- und Cornerpublikum, für das sich in den vielen auf niedlich und Vintage getrimmten Shops auf Schritt und Tritt nice Konsummöglichkeiten bieten. Erschöpfungsbedingte Pausen können bei Soja-Latte, Craftbeer und Cidre in der trendigen Gastronomie auf und abseits des mit reichlich Fame gehypten Schulterblatts eingelegt werden. Ein beliebtes Selfie-Objekt stellt natürlich das autonome Kulturzentrum Rote Flora für all jene dar, die sich mittels payfunktionalem Smartphone oder Credit Card durchs Viertel bewegen und ihren Social-MediaFriends eine Impression kapitalismuskritischer Abgefucktheit vermitteln können.

Wenn ich nun die Erklärung der Geschäftsleute lese, kommen mir fast die Tränen. Die Hamburger Petit Bourgeoisie äußert sich politisch, der Applaus der Szene ist den Gewerbetreibenden sicher. Dass die Kleinbesitzklasse sich über "erlebnishungrige Jugendliche sowie Voyeure und Partyvolk, denen wir eher auf dem Schlagermove, beim Fußballspiel oder Bushido-Konzert über den Weg laufen würden" mokiert, verwundert mich nicht, denn besagtes Partyvolk hat am 7./8.7. ein, sagen wir mal, etwas unkonventionelles konsumistisches Verhaltensdispositiv zur Schau gestellt. Nur am Rande sei angemerkt, dass ansonsten, außerhalb des singulären Ereignisses G20, jene juvenile Massen natürlich gern als zahlende Gäste gesehen sind. Ganz ehrlich: geschenkt. So tickt das Bürgertum eben, in Hamburg und anderswo.

Es gibt da noch etwas anderes - und dies ist dann schon Hamburg-spezifischer. Zitat aus der Erklärung: "Wir leben seit vielen Jahren in friedlicher, oft auch freundschaftlich-solidarischer Nachbarschaft mit allen Formen des Protestes, die hier im Viertel beheimatet sind, wozu für uns selbstverständlich und nicht-verhandelbar auch die Rote Flora gehört. Daran wird auch dieses Wochenende rein gar nichts ändern."

Ich bin mal ganz böse und stelle mich bewusst außerhalb des links-alternativen Common-Sense, der ja bei nüchterner Betrachtung bloß eine gut kleinbürgerliche Übereinkunft aktiv Kommerz und Gentrifizierung betreibender Menschen ist, die ihre wahren Interessen unter dem Deckmantel einer gern demonstrativ zur Schau gestellten Hypermoral zu tarnen wissen. Ich bin also mal ganz böse und stelle mir vor, welche Wirkung eine solche Erklärung von Geschäfts- und Gewerbetreibenden weiter südlich in Europa, etwa in Palermo, haben würde. Könnte hier nicht gutes Material für einen neuen Hamburg-Roman bereitliegen? Zum Plot könnte dann dies gehören: Da gibt es einen Obergärtner namens Eisenmeier, der bestens politisch vernetzt ist und auch die Geschäfts- und Immobilienwelt der Hansestadt gut kennt. Das muss er ja auch, denn die Gärtnerei bringt viele schöne Blüten hervor. Das kostet Geld und auch Eisenmeier will gemeinsam mit der Geschäftsleitung gut leben können. Besonders im Mai sprießt die Flora üppig und da kommt man dann mal ins Gespräch mit der Immowelt. Da könnte dann geraunt werden, dass die Gesellen des Gärtnerbetriebs aus Gründen vielleicht mal beiläufig ein paar Kieselsteine in das Schaufenster eines Geschäfts in der Monikastraße befördern könnten. Gegen Entgelt, versteht sich. Für friedliche Koexistenz wäre gesorgt, die Geschäfte würden sprießen, Ehrenerklärungen, so denn welche benötigt würden, würden hausfrei gratis erteilt. Schöne, neue Welt in Hamburg? Wer weiß das schon.

Montag, 12. September 2016

Böhmermann - Hipster der Comedians, Comedian der Hipster

Ich habe ein wenig gewartet mit diesem Post. Schließlich besteht meine Intention sicherlich nicht darin, den Hype um des deutschen Hipsters Liebling Jan Böhmermann, ZDF-Late-Night-Comedian, weiter zu befördern. So bewahrte ich die Feuilleton-Glosse aus der bescheuerten DIE ZEIT vom 1. September 2016 mit dem selten dämlichen Titel "Jan Böhmermann ist wieder da und so gut wie kein anderer" aus der Tastatur von Eva Bucher bis heute auf.
Eva Bucher neigt zu einer recht kruden Form der Auto-Makro-Aggression. Es macht ihr nämlich sichtlich Freude, sich von derangierten Hipstern wie Böhmermann als geile Fotze out there bezeichnen zu lassen. Ich kenne Eva Bucher nicht, doch nehme ich mal an, dass diese Selbststigmatisierung zutrifft und sie genau das ist, was Onkel Böhmermann so von einer ZEIT-Redakteurin hält: nämlich eine Fotze zu sein.
ZEIT-Fueilletonistin Eva Bucher stelle ich mir als eine Frau vor, die wahrscheinlich jeder noch so unterschwellig mikro-aggressiven Form von Misogynie pikiert entgegentritt. Von Uslar, Mangold, di Lorenzo und Konsorten sollten sich ihr gegenüber in Acht nehmen: Eva Bucher wird es nicht mögen, auf dem Weg zum WC von den stets leicht geilen ZEIT-Kollegen bedrängt zu werden. Es sei denn ... Es sei denn sie beherrschten wie Jan Böhmermann diesen "doppelten Twist der Pointen". Dann nämlich ist dem Dirty Talking mit anschließendem Gang-Bang bei Eva Bucher Tür und Tor, sprich: sind die Löcher, geöffnet.
So einfach geht das: Da kommt eine blöd grinsende Handpuppe namens Böhmi daher, in dessen Arschloch die Finger von derangierten ZDF-Redakteuren und Lohnschreibern der bildundtonfabrik stecken, und Eva Bucher von der bescheuerten DIE ZEIT gerät total außer Kontrolle.
Böhmermann möchte ich zurufen: Da hast du eine völlig durchgeknallte Hipster-Muddi, der du's nach allen Regeln der Kunst richtig derb besorgen kannst. Nachher wird Eva Bucher dir nicht böse sein, nein, ganz im Gegenteil, sie wird sich in der ZEIT über Twists, Satire, performative Selbstwidersprüche, Parodie und Multiperspektivität auslassen. Jeden Erguss von dir wird die Fotze klaglos schlucken und selig vor Glück Böhmermann "bei der Arbeit zusehen und sich freuen."

Mittwoch, 27. Juli 2016

Steffen Roski: Über Terrorismus

Als Soziologe, Zeitungsleser, User sozialer Medien wundere ich mich darüber, dass Gegenwartsdiagnosen zum sich Bahn brechenden Zeitalter des Terrors Mangelware sind. Durch Zufall - im wahren Sinne eines Zu-Fallens - begegnete mir vor wenigen Tagen die zweite Ausgabe der im Jahre 1979 vom Wagenbach-Verlag aufgelegten Zeitschrift “Freibeuter“. Angelockt von einem Text Gunnar Heinsohns über Immanuel Velikovsky blätterte ich dann rasch weiter und stieß auf einen Essay aus der Feder von Jean Baudrillard mit dem Titel “Im Schatten der schweigenden Mehrheit“. Vor fast vierzig Jahren erschienen, ist dieser Text bei weitem besser als alle heutigen Versuche der Welterklärung durch Wissenschaft und Publizistik. Er liest sich wie eine aktuelle Diagnose, auf die zumindest ich gewartet habe.
Um Baudrillards Thesen Geltung zu verschaffen, werde ich sie nach und nach zitieren und mir erlauben, eigene Gedanken anzufügen. Dies heißt zugleich, dass ich aus “Im Schatten der schweigenden Mehrheit“ jene Passagen auswähle, die mir geeignet erscheinen, die heutige Situation 2016 zu beleuchten. Der Text bietet darüber hinaus noch zahlreiche weitere gegenwartsdiagnostische Anknüpfungspunkte, die ich unberücksichtigt lasse. Lesen wir also in den Anfang des Textes, den der Autor “Vom Widerstand zum Hyperkonformismus“ überschrieben hat, hinein:
“Das Auftauchen der schweigenden Mehrheiten muß im gesamten Kreislauf des historischen und sozialen Widerstandes angesiedelt werden. Des Widerstands gegen die Arbeit natürlich, aber auch des Widerstands gegen die Medizin, die Schule, die Sicherheit und gegen die Information. Die offizielle Geschichte nimmt in ihre Darstellungen nur den ununterbrochenen Fortschritt des Sozialen auf und verbannt alles, was nicht zu diesem glorreichen Tatbestand beiträgt, … ins Reich der Finsternis.“
Wie wahr. Baudrillard findet einen passgenauen Begriff: die schweigenden Mehrheiten. Tatsächlich tauchen diese Multiplizitäten zombiehaft auf. Massenmedien, Politiker und Beobachter alles Gesellschaftlichen zeigen sich überrascht. Ein aktuelles Beispiel: Leute, die alles andere als kundige Leser von Zeitungen und Magazinen sind, skandieren öffentlich lautstark “Lügenpresse“. Sogenannte Leitmedien sehen sich unter Druck gesetzt, alerte Leitartikler, die längst in biedermeierliche Hipster-Parallelwelten abgetaucht sind, sehen sich genötigt, Stellung zu beziehen, Hassbotschaften zirkulieren in den Social Networks, einst aseptische Diskursuniversen krachen unvermittelt in die Gettos der Namenlosen. Und während dies geschieht, betreibt die “offizielle Geschichte“ ihr Alltagsgeschäft: Lob des Bestehenden und Gestaltung des “ununterbrochenen Fortschritt des Sozialen“.
Weiter Baudrillard:
“Nun hat aber der Widerstand gegen das Soziale in all seinen Erscheinungsformen ganz im Gegensatz zu den naheliegenden Vermutungen (das Soziale habe endgültig den Sieg davongetragen, die Bewegung sei irreversibel und der Konsensus über das Soziale total) schnellere Fortschritte gemacht als das Soziale selbst.“
Wer Zweifel hat, betrachte die jüngste Gewaltwelle überall auf der Welt, von der die ökonomisch entwickelten Gesellschaften ganz und gar nicht ausgenommen sind: USA, Frankreich, Japan, Belgien, Deutschland.
Ich lasse jetzt einiges aus und lese etwas später dann dieses:
“Man hat immer geglaubt - und dies ist die Ideologie der Massenmedien selbst -, daß es die Medien sind, die die Massen einhüllen. Man hat das Geheimnis der Manipulation in einer ausgeklügelten Semiologie der Massenmedien gesucht. Doch bei dieser naiven Logik der Kommunikation hat man vergessen, daß die Massen ein Medium sind, das stärker ist als alle Medien, daß sie es sind, die die Medien einhüllen und absorbieren - oder daß es zumindest keine Vorherrschaft des einen über das andere gibt. Der Prozeß der Massen und der der Medien ist ein und derselbe. Mass(age) is message.“
Vor diesem Hintergrund mutet das Wort Leitmedium geradezu lächerlich an. Schlimmer nur, dass Journalisten und politische Meinungsbildner in einer kaum überbietbaren Hybris vermeinen, noch so etwas wie eine ätherische Deutungshoheit zu besitzen, während die irdische Definitionsmacht tatsächlich bei den Massen liegt. Ein Prozess der Entfremdung zwischen Elite und Masse, der immer auch eine Entfernung impliziert, kommt in sein reifes Entwicklungsstadium und ist irreversibel geworden.
Im Ökonomischen ergehen sich die Massen - “wir, Sie, alle“ - in asozialem Konsum, hegen grenzenlose Erwartungen an die Medizin, erheben “Anspruch an das Soziale als Gut des individuellen Konsums“. In der Gesamtbetrachtung ergibt sich nach Baudrillard dieses Bild:
“Parodie und Paradox: in den für sie vorgezeichneten Wegen des Sozialen gelangen die Massen durch ihre Trägheit selbst über die Logik und die Grenzen dieses Weges hinaus und zerstören das ganze Gebäude. Eine destruktive Hypersimulation, ein destruktiver Hyperkonformismus …, der alle Anzeichen einer siegreichen Herausforderung aufweist - niemand kann die Macht dieser Herausforderung, der Umkehrung, die er dem ganzen System auferlegt, ermessen. Genau darin liegt heute der wirkliche Einsatz, in dieser tauben, unausweichlichen Auseinandersetzung der schweigenden Mehrheit mit dem Sozialen, das ihnen aufgezwungen wird, in der Hypersimulation, die die Simulation verdoppelt und sie gemäß ihrer eigenen Logik ausrottet … .“
Das Soziale ist Destruktionsfeld der Massen - und des Terrorismus. Ich lasse wieder Baudrillard sprechen:
“Der Terrorismus … zielt … auf … das Soziale. Als Antwort auf den Terrorismus des Sozialen zielt der derzeitige Terrorismus auf das Soziale. Er zielt auf das Soziale, so wie dieses heutzutage produziert wird - als ein allumfassendes, in alle Zwischenräume dringendes, nukleares, gewebeförmiges Netz der Kontrolle und der Sicherheit, das uns von allen Seiten belagert und uns, uns alle, zur schweigenden Mehrheit macht. Eine hyperreale, unfaßbare Sozialität, die nicht mehr mit Gesetz und Repression operiert, sondern mit der Infiltration bestimmter Modelle, nicht mehr mit Gewalt, sondern mit Überreden/Widerraten - und genau darauf antwortet der Terrorismus mit einem ebenfalls hyperrealen Akt, der von vornherein den konzentrischen Kreisen der Medien und der Faszination geweiht ist, der von vornherein nicht etwa irgendeiner Repräsentation oder einem Bewußtsein gilt, sondern der geistigen Verlangsamung durch Kontinuität, Faszination und Panik, nicht etwa der Reflexion oder der Logik von Ursache und Wirkung, sondern der Kettenreaktion durch Ansteckung - einem Akt, der sinnentleert und folglich ebenso unbestimmt wie das System, das er bekämpft, oder besser gesagt, in das er sich einfügt als höchster oder infinitesimaler Punkt der Implosion … und daher zutiefst homolog mit dem Schweigen und der Trägheit der Massen.“
Regelmäßig verfehlen sogenannte Terrorexperten, also die medialen Erklärer terroristischer Akte, diesen Punkt. Mir scheint, diesen Experten beschleicht sogar eine gewisse Erleichterung, wenn der terroristische Akt einem politischen Akteur zugerechnet werden kann. Dann nämlich ließe sich so etwas wie ein Sinn der Tat heranassoziieren. Kämpft der Daesh nicht für ein Kalifat und damit gegen jene, die dies mit militärischen Mitteln verhindern wollen? Wie sind Terrorakte “einsamer Wölfe“ zu bewerten? Handelt es sich um psychisch Labile oder um “Daesh-Soldaten“? Oder trifft alles mögliche zu? In den Nachrichtennächten der Medien werden diese und ähnliche Fragen bis zum Erbrechen durchgekaut. Regelmäßig nicht thematisiert und nicht befragt wird die Form des Sozialen, in die der Terrorakt interveniert. Fremdattribution schlägt Selbstattribution regelmäßig aus dem Feld. Baudrillard gelangt zu dem Schluss:
“Terrorismus … ist nur deshalb einzigartig und unlösbar, weil er irgendwo und irgendwann unberechenbar zuschlägt, weil er irgendwen trifft - sonst wäre er nur Erpressung oder eine militärische Kommandoaktion. Seine Blindheit ist die genaue Antwort auf die Undifferenziertheit des Systems, das seit langem nicht mehr zwischen Zielen und Mitteln, zwischen Henkern und Opfern unterscheidet. Sein Akt richtet sich in der mörderischen Unterschiedslosigkeit der Geiselnahmen genau gegen das charakteristischste Produkt des ganzen Systems: gegen das anonyme und vollkommen undifferenzierte Individuum, den Begriff, der jedem anderen substituierbar ist. Paradoxerweise muß man sagen: die Unschuldigen zahlen für das Verbrechen, nichts zu sein, ohne Bestimmung zu sein; sie zahlen dafür, daß sie ihres Namens durch ein System beraubt worden sind, das selbst anonym ist und dessen reinste Verkörperung sie nun darstellen. Sie sind die Endprodukte des Sozialen, die Endprodukte einer abstrakten und fortan weltweiten Sozialität. In diesem Sinne, eben in ihrer Eigenschaft als irgendwer, sind sie die prädestinierten Opfer des Terrorismus.“
Der Terrorakt erscheint als eine Katastrophe, die auf das Soziale einwirkt, genau so wie eine Naturkatastrophe ebenfalls jede und jeden treffen kann. Ich möchte an dieser Stelle aufmerksam machen auf die Unterscheidung von Risiko/Gefahr, die Niklas Luhmann angesichts ökologischer Szenarien in den 1980er Jahren in die sozialwissenschaftliche Diskussion brachte. Eine Gefahr kann nur erlebt werden, sie bricht einfach über uns herein. Ein Risiko dagegen unterliegt der Beeinflussung durch Handelnde und das Eintreffen eines riskanten Ereignisses kann entsprechend gemindert oder ganz und gar ausgeschlossen werden. Aus diesem Kalkül heraus erscheinen auch alle medialen Beschwichtigungen dergestalt, dass es wahrscheinlicher sei, Opfer etwa des Straßenverkehrs als Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, verfehlt. Baudrillard erkennt hellsichtig den Terrorismus als Gefahrenlage, deshalb auch das politische Mantra der niemals zu 100 Prozent herzustellenden Sicherheit, die allerdings wiederum von der schweigenden Mehrheit um so lautstärker eingefordert wird.
Massen, Medien, Terrorismus - das ist Baudrillard zufolge die Trias, welche das Soziale zur Implosion bringen wird. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass dieser Ansatz nahelegt, im Angesicht des Terrors das zu tun, was vornehmliche Aufgabe politischer, journalistischer und wissenschaftlicher Analyse sein sollte: nämlich danach zu fragen, wie es um die Werte und Institutionen kapitalistischer Gesellschaften bestellt ist. Ein trotziges Weiterwursteln, ein ins paranoiahafte gesteigertes Sicherheitsdispositiv sowie das Beharren darauf, dass der konsumistische Lebensstil nicht zur Disposition stehe, sind sicherlich nicht die Antworten, die benötigt werden.



Sonntag, 17. Juli 2016

Steffen Roski: DIE ZEIT - Leitmedium der Parallelgesellschaft


Harald Martenstein, leicht derangierter und durch und durch verspießter Kolumnist der Lifestyle-Beilage zur Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT, dem Zeitmagazin, berichtete vor einigen Wochen darüber, wie er am Frankfurter Hauptbahnhof von bandenmäßig organisierten Kleinkriminellen abgezogen worden ist. Ich erspare mir die Nacherzählung seiner Schilderung. ZEIT-Leser, die sich an dessen Geschreibsel aufgeilen und dort ihre kleinbürgerlichen Vorurteile Woche für Woche zu bestätigen suchen, werden sich erinnern. Allen anderen sei nur so viel gesagt: Ausgangspunkt des Martensteinschen Erlebnisses war eine junge Frau dunklen Typs, die dem alten notgeilen Sack sofort irgendwie sympathisch erschien. In dieser kleinen Martenstein-Geschichte spiegelt sich vieles, was für die ZEIT-Redaktion insgesamt gilt: eine völlig verzerrte Sicht auf die Gesellschaft nämlich, auf die Giovanni di Lorenzo und Konsorten aus den Butzenscheiben ihrer behaglichen Designer-Behausungen in Eppendorf, Ottensen oder wo es sich sonst noch teuer und edel wohnen lässt, blicken.
Mir liegt hier gerade der Politikteil vom 30. Juni 2016 vor. Mustereuropäer Giovanni di Lorenzo, für den das One-Man-One-Vote-Prinzip keine Gültigkeit besitzt, gab doch der deutsch-italienische Stimmbürger bei der letzten Wahl zum Europaparlament selbstverständlich zwei Wahlzettel in die Urne, stellt dort die selten dämliche Frage: “Wie viel Volk darf’s denn sein?“ Dem schnöseligen Leitartikler gelingt dort eine hübsche Selbstcharakterisierung. Schauen wir einmal genauer hin, wie sich der haargelgeglättete Hamburger Schönschreibling sieht: Als “Welterklärer“ nämlich, der sich der “europäischen Idee verbunden fühlt“. Der ZEIT-Chefredakteur ist stets im Kreise der “Richtigen“, hält sich für einen “aufgeklärten und politisch interessierten, weltläufig und liberal gesinnten Menschen“. Dass er sich selbst zum Kreis der “politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Eliten“ zählt, ist nichts als eine bare Selbstverständlichkeit. Er und seine ZEIT-Mischpoke haben “über Jahrzehnte“ alles mögliche “an Gutem und Bewahrenswertem aufgebaut“, “im September 2015“ spontan und großzügig “Hilfe für Menschen, die Krieg und Tod entflohen sind“ geleistet. Hier von Gutmenschen zu reden, trifft es nicht, Schönling di Lorenzo ist ein Edelmensch, eigentlich kaum Mensch mehr, sondern sich selbst gebärender Geist.
Ich schlage in derselben Ausgabe ein paar Seiten weiter und finde einen possierlichen Besinnungsaufsatz von Heinrich Wefing, in dem der Autor seine verspießten Scheiß-Alltagserlebnisse einfließen lässt. Wefing gibt mit seinen beiden Plagen, “fast 16 und 13 Jahre alt“, an. Sie wachsen “behütet auf, aber sie bekommen vieles mit. Sie sehen abends die Nachrichten, sie sind im Netz unterwegs. Hören von Putin, von Trump, von Erdogan. Und manchmal fragen sie mich, in letzter Zeit häufiger: Spinnen die eigentlich alle?“
Väter wie ZEIT-Autor Wefing definieren ihren beschissenen Alltag inklusive Kindererziehung als “Großprojekt schlechthin“. Doch in letzter Zeit wird das Weichspülprogramm gestört: “Man hat so seine Gedanken, man hat so seine Sorgen. Und in den letzten Monaten beschleicht mich immer häufiger ein mulmiges Gefühl. Das Gefühl, dass sich gerade etwas ziemlich Grundlegendes verändert. Für mich, aber auch für meine Kinder. In was für einer Welt werden sie eigentlich erwachsen?“ Tja, Wefing, so eine verfickte Scheiße auch. Nichts wird’s für dich und deinen Kindern mit einem entspannten Verhältnis “zu diesem Deutschland, heiter und selbstbewusst, so wie man es auch aus anderen Ländern kennt, in denen die Menschen unbefangen ihre Flagge schwenken.“ Wefings Idealwelt ist die des “Mehr“: “Mehr Sicherheit, mehr Toleranz, mehr Reichtum, mehr Freiheit“, eine Welt, “die voller Optionen ist und fast frei von Widerständen“. Schon kacke, denn seit einiger Zeit sind “die Fundamente plötzlich wieder in Gefahr. Was selbstverständlich schien, ist nicht mehr selbstverständlich. Das ist für meine Generation eine ziemlich verstörende Erkenntnis.“ So what? Bei Pappa Wefing im Kuschelwohnquartier ist die Welt ja ganz OK, seine Designer-Kids lernen Sprachen “und Klavier und Volleyball“. Und das Beste: “Als letztes Jahr die Flüchtlinge kamen, da sind sie losgezogen mit ihren Freunden und haben geholfen, in Kleiderkammern und Unterkünften, einfach so. Wir haben sie nicht dazu gedrängt, sie haben es von sich aus getan, es schien ihnen richtig, und wir, die Eltern, waren ziemlich stolz darauf.“
Drei ZEIT-Eindrücke - der naive Onkel Martenstein, Eliten-Giovanni und Projektpappa Wefing, drei Eindrücke, die m.E. für sich selbst sprechen, um deutlich zu machen, in welchem Paralleluniversum die Schreiberlinge des Hamburger Wochenblättchens schweben. Für Martenstein besteht die Welt nur aus ihm sympathischen Menschen. Wird er von einer solchen Person angekobert, blendet der sich ansonsten so weltkundig gebende Lifestyle-Kolumnist die Tatsache total aus, dass es zum Wesen bandenförmig organisierter Kriminalität gehört, die Naivität dieser Kindchenschemasicht auf andere Menschen für sich nutzbar zu machen. Di Lorenzo, ganz der glatt lackierte Edel-Stilist, sieht sich im Pantheon des Journalismus aus dessen ätherischen Sphären er den Weltenlauf betrachtet und sich zunehmend ob der sich stetig vergrößernden Zahl an Kretins und Idioten am Boden angeekelt abwendet. Und dann ist da noch Wefing, ganz Hipster-Pappa, der beim Soja-Latte mit seinen schwerstbegabten Plagen über Putin, Trump und Edogan parliert. Währenddessen besorgt dann eine wahlweise portugiesische oder polnische Putze den Haushalt, damit die Kiddies mit frisch gebügeltem Hoodie in der Flüchtlingsunterkunft aufschlagen können.
DIE ZEIT ist ein Organ für eine Parallelgesellschaft, für Studienräte, die außerhalb von Bildungseinrichtungen die Welt bloß als Teilnehmer von Bildungsreisen in den Sommerferien kennen, für abgebrühte Hipster aus der Kreativszene, die sich ihr Surrogat von Welt und Gesellschaft aus dem wöchentlichen Weichspülprogramm von DIE ZEIT und Zeitmagazin ziehen, für neureiche Erben, Galeristen und Kunsthändler, überhaupt für sogenannte Schaffende in Kunst, Kultur und Wissenschaft.
Witzig, dass di Lorenzo & Co. sich in ihrem Schickimicki-Echoraum selbstverständlich als Vertreter eines “Leitmediums“ betrachten. Blöd nur, dass sich außerhalb der ZEIT-Bubble niemand um die Meinungen der Hamburger Edelgazette mehr schert.

Montag, 7. September 2015

Steffen Roski: CEWE Photo Award 2015, Hamburg, Deichtorhallen

Unter dem selten bescheuerten Titel "Our world is beautiful" findet man seitlich vor den Deichtorhallen Stellwände mit den preisgekrönten Fotografien des o.a. Wettbewerbs. Im Begleittext heißt es im Weichspüljargon der Kunst- und Sponsoringszene: "Die Schönheiten der Welt entdecken und fotografieren - dazu hatte CEWE, Europas führender Fotoservice und innovativer Online Druckpartner, mit dem großen Fotowettbewerb 'Our world is beautiful' aufgerufen. Über 94.000 Einreichungen aus aller Welt bewarben sich bis Frühjahr 2015 um die Preise im Gesamtwert von mehr als 80.000 Euro und wurden von einer Fachjury in sechs Kategorien (Architektur, Landschaften, Natur, Menschen, Sport und Verkehr/Infrastruktur) bewertet. ... CEWE ist dem Kulturgut Fotografie traditionell verbunden und übernimmt mit seiner kontinuierlichen Förderung seit vielen Jahren konkrete Verantwortung. Zahlreiche Fotowettbewerbe und ein langfristiges Engagement im Bereich Fotografie wie das Sponsoring des Deutschen Fotomuseums in Leipzig,die Partnerschaft mit den Deichtorhallen Hamburg sowie dem 'horizonte' Fotofestival in Zingst untermauern diesen Anspruch."

In den ausgelassenen Passagen finden sich die üblichen Lobeshymnen, wenn es um Fotokunst geht: "mit den Mitteln der fotografischen Bildsprache" werden "Geschichten erzählt und Emotionen geweckt." Usw. Die von mir ausgewählten Werke kann man in einer Google+-Sammlung betrachten:

https://plus.google.com/collection/oMsc3

Es lohnt m.E. kaum, auf einzelne Bilder näher einzugehen. Mein Eindruck ist dieser: Eine langweilige Aneinanderreihung von Ergebnissen zweifellos bemerkenswerter Fototechnik. Konventionell, nur selten künstlerischen Maßstäben entsprechend. Eine schöne Scheinwelt wird hier präsentiert, manchmal nice to see, allerdings ohne sich dem künstlerischen Blick wirklich aufzudrängen. Deichtorhallen goes Marketing. Traurig das Ganze.

Montag, 17. August 2015

Steffen Roski: Antikapitalistische Plakatkunst am Bremer Hauptbahnhof

In Bremen soll eine weitere Shoppingmall im Innenstadtbereich am Hauptbahnhof entstehen. Auch anderenorts greift der hässliche Konsumismus um sich. Innenstädte sollen kein Lebensraum sein, sie werden ausgetrocknet und sind zu rein merkantilen Zonen umgestaltet worden. Auch die noch verbliebenen Restbereiche öffentlichen Lebens werden nach und nach getilgt. Von 10 bis 20 Uhr bevölkern frohgelaunte Konsumenten die verglasten Hallen des Begehrens. Davor und danach sorgt eine private Security dafür, dass jeder noch so kümmerliche Ansatz spontanen Ausdrucks unterdrückt wird. Gegen diese Tendenzen haben Künstler in Form von Plakaten, die an einem Bauzaun vor dem Bremer Hauptbahnhof angebracht sind, auf ihre Weise Widerspruch eingelegt. Vielleicht eine Anregung für andere derartige Vorhaben in der Republik?

https://plus.google.com/u/0/collection/wlhC2

Donnerstag, 13. August 2015

Steffen Roski: Gedanken zum Alltagsrassismus

Gute Karikaturen treffen den Punkt. So diese: Ein Kapitalist macht einen Armen darauf aufmerksam, dass ein um Asyl nachsuchender Mensch diesem etwas wegnähme.

Es gibt zwei prinzipielle Arten von rassistischer Diskriminierung. Die eine ist negativer Natur und wird in der Karikatur veranschaulicht. Menschen, die objektiv depraviert sind und sich auch selbst als chronisch benachteiligt erleben, greifen diejenigen an, die aus ihrer Sicht ihre ohnehin Lebenschancen minimen Lebenschancen weiter vermindern. Sie nehmen Refugees als unmittelbare Konkurrenten um knappe Ressourcen - Bildung, Gesundheit, Teilhabe etc. - wahr.

Die andere Art rassistischer Diskriminierung ist positiver Natur und ist ohne ihre negative Kehrseite nicht denkbar. Ein konstruiertes Beispiel: Beate J. lebt mit ihren zwei Kindern Antonia und Jakob in einem Berliner Szenestadtteil. Sie arbeitet in der Kreativbranche, ist gut gebucht, Geld ist vorhanden. Aufmerksam verfolgt Beate das Tagesgeschehen und ist angeekelt von einem immer demonstrativer werdenden Rassiswmus in diesem Land. Mit Refugees hat sie nicht direkt zu tun. Diese leben irgendwo in einem Teil der Vorstadt, den sie allenfalls vom Hörensagen kennt. Am Wochenende besucht sie mir ihren beiden Kindern, die das örtliche Gymnasium besuchen, eine Kulturveranstaltung, auf der eine Gruppe afrikanischer Menschen musizieren und die heimische Küche vorstellen. Schnell freundet sie sich mit einem Refugee an, den sie für die kommende Woche zum Essen einlädt. Man ist geneigt zu sagen: vorbildlich. Eine zwischenmenschliche Beziehung ist gestiftet worden.

Beate J. fühlt sich wohl, ein Musterbeispiel vorurteilsfreien Handelns. Stimmt dies? Zweifel sind angebracht. Als Werberin ist Beate J. oft geistig ausgelaugt, braucht zur Aufrechterhaltung ihres kreativen Potenzials immer wieder äußere Inputs. Und da kommt eine kulturell und menschlich interessante Begegnung gerade recht. Das alles bleibt letztlich folgenlos, denn ihren Alltag bestimmen weiterhin die Kreativ- und Lifestyle-Hipster, mit denen sie Clubs, Kinos, Vernissagen, Theater besucht sowie die Freizeit für ihre Kinder organisiert. Ihr diskriminierendes Handeln liegt in Folgendem: Refugees sind auf Grund ihres kulturellen Mehrwerts für Beate J. interessant. Letztendlich verhält sie sich nicht anders als jene, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts afrikanische Menschen in Zoos aus Sensationsgier beglotzten.

Um auf die Karikatur zurückzukommen: Eine von Rassismus freie Gesellschaft werden wir nur dann erreichen, wenn es die Kluft zwischen Armen Und Reichen, zwischen Privilegierten und Ausgeschlossenen nicht mehr gibt. Rassismus ist eine soziale Frage. Solange wir das nicht begriffen haben, haben wir nichts verstanden.


Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

Freitag, 26. Juni 2015

Claudia Aebersold Szalay: Klagen über tiefe Zinsen. Was macht die deutschen Sparer wirklich arm?

"Nun hat die Notenbank den Vorwurf in einem wissenschaftlichen Papier untersucht und ist zum Schluss gekommen, dass nicht ihre Politik für die Unzufriedenheit deutscher Sparer verantwortlich ist. Skepsis ist natürlich angebracht, wenn die Forschung ausgerechnet von der Angeklagten selbst kommt, doch die Argumentation der EZB-Ökonomen ist so simpel wie überzeugend. Sie erinnern daran, dass die Notenbank lediglich die kurzfristigen nominalen Zinssätze direkt steuern kann. Auf die langfristigen Nominalsätze kann sie lediglich indirekt, über die Inflationserwartungen, Einfluss nehmen. In der langen Frist - die Perspektive, die Sparer interessiert - hängt die Verzinsung aber primär vom Realzins ab. Dieser wird von mehreren Faktoren bestimmt, vor allem von den verfügbaren Arbeitskräften in einem Land und deren Produktivität. Was den Realzins somit erhöht, sind eine kluge Arbeitsmarktpolitik, Infrastruktur-Investitionen sowie gute Rahmenbedingungen für technischen Fortschritt. Für all das ist nicht die Notenbank zuständig. Im Gegenteil, sie ist gegenüber den Kräften, die den langfristigen Realzinssatz bestimmen, nahezu machtlos. Die 'Bild' beklagt den 'Zins-Klau', doch der Dieb ist nicht die EZB."

Quelle: http://www.nzz.ch/meinung/reflexe/wer-macht-die-deutschen-sparer-wirklich-arm-1.18567911