Mittwoch, 25. Juli 2012

Kurt Drawert: Der entrissene Text III

Online-Sein heisst immer auch Verflüchtigung, Dispersion. Ein Fliesstext zieht an unserem Auge vorbei, der sich in einer Geschwindigkeit bewegt, die wir mit Erkenntnisfunktion nicht mehr ausfüllen können. Und <Fliesstext> meint jetzt nicht nur den real fliessenden Text, den es ja auch noch gibt, sondern den, der alle Merkmale von Flüchtigkeit erzeugt und wie Fliesstext auf uns wirkt. Die Daten sind dann nur noch ein verschwommenes Flimmern, und sobald wie separate Sequenzen erfassen, geben sie uns die Genugtuung, alles <erfasst> zu haben. Aber es ist nur eine sich selbst aus dem Weg schiessende Überschwemmung von Daten, die uns erreicht hat, nicht einmal informationswertig, geschweige denn insistent - ausser in der Werbung vielleicht. Das Sekundenerlebnis, verstanden zu haben, war ein euphorischer Trugschluss, wie wir ihn in Anhörung einer Fremdsprache erleben, in der plötzlich eine bekannte Vokabel auftaucht. Vor lauter Begeisterung, dass nicht alles Chinesisch ist, was zu uns redet, bilden wir uns ein, Chinesisch zu können. Mit empirischer Neuerfahrung und Bewusstseinserweiterung hat das rein gar nichts zu tun. Aber wir wissen es nicht und halten es dafür.
(Aus: Neue Zürcher Zeitung, 21. Juli 2012, S. 21)


Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

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