Samstag, 28. Juli 2012

Kurt Drawert: Der entrissene Text VI

<Entkleidungsverpflichtung> beim Eintritt ins Internet meint eines wortwörtlich: seine Textsachen abzulegen und mitzuverfolgen, wie sie verschwinden. Das betrifft nicht nur die Schrift in einem Portal, die immer eine verschwindende ist; spätestens nach ein paar voreingestellten Minuten des aktivierten Bildschirmschoners zwangsläufig und sowieso, der zwar immer wieder zurückgestellt werden kann, aber prompt daran erinnert, dass eine Schrift niemals stehenbleiben darf - und genau diese subalterne Benachrichtigung erreicht ihren Zweck und vergegenwärtigt den Charakter der Flüchtigkeit, der mit dem des Fragments liiert ist. Das Verschwinden ist so immer schon vor das Erscheinen gesetzt, und das kippt sie ontologische Grunderfahrung unseres Lebens in eine seitenverkehrte und, so kann man sagen, fatalere Position: nicht vom Sein auf das Vergehen zu existieren und zu schreiben vom Text hin auf eine letzte Seite des Textes, die immer auch leer bleibt (für den unerzählten Rest), sondern eben in dieser Umkehrung. Schon vom Nichts herzukommen, ehe noch das Nichts alles wieder nimmt, ist die Internetwahrheit, und nicht die Extraversion eines Interesses.

(Aus: Neue Zürcher Zeitung, 21. Juli 2012, S. 21)

Mein Blog befasst sich in einem umfassenden Sinn mit dem Verhältnis von Wissen, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein besonderes Augenmerk richte ich dabei auf die Aktivitäten des Medien- und Dienstleistungskonzern Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung.

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